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Tagungsbericht: 4. St.Galler Demenz-Kongress 2016

Mehr als 1.000 Fachpersonen haben am vierten St.Galler Demenz-Kongress mit dem Thema „Sinn und Sinnlichkeit in der Pflege und Begleitung von Personen mit Demenz“ teilgenommen. Ein Tagungsbericht von Dr. Diana Staudacher.

 

Demenz: Die Sinne als Brücke zum Menschen

Spürend und sehend, hörend und schmeckend finden Personen mit Demenz einen Zugang zur Welt. Je mehr kognitive Fähigkeiten nachlassen, desto stärker sind Betroffene auf ihre Sinne angewiesen, um sich in der Welt zurecht zu finden. Eine an den Sinnen orientierte Pflege ist identitätserhaltend und ermöglicht Lebensqualität ‒ so lautete eine wichtige Botschaft des Kongresses.

 

„Die Sinne zu pflegen, ist wichtig ‒ durch einen schönen Anblick, einen angenehmen Geruch, ein ansprechendes Bild oder eine Umarmung“, darauf wies Prof. Dr. Wilhelm Schmid, Universität Erfurt, die über Tausend Kongressteilnehmenden in seinem Eröffnungsvortrag hin. Menschen mit Demenz verlieren die Orientierung in Raum und Zeit ‒ sie werden „heimatlos“. Umso wichtiger ist es, ihre Sinne anzusprechen, um ihnen „Heimat in gefühlsbestimmten Situationen“ zu geben. Sinn und ein Zuhause sind dort, „wo ich mich angenommen fühle“, sagte Professor Schmid.

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Pflegende können Personen mit Demenz in ihrer „eigenen Welt“ erreichen, indem sie sich auf eine Kommunikation mit allen Sinnen einlassen ‒ diese Botschaft zog sich wie ein roter Faden durch den gesamten Kongresstag.
Die fünf Sinne sind unser Tor zur Welt. Milliarden von Nervenzellen sorgen dafür, dass wir uns selbst und die Welt spüren. Die sinnliche Weltwahrnehmung wird zur wichtigsten Orientierungsgeberin, wenn Gedächtnis und Kognition schwächer werden. Für Pflegefachpersonen ist es somit besonders bedeutsam, die Sinne von Menschen mit Demenz anzusprechen. Dies kann dazu beitragen, dass Betroffene ihr Selbstempfinden, ihren Lebenssinn und ihre Lebensfreude möglichst lange bewahren. Dies zeigten die dreizehn Referierenden anhand verschiedenster Aspekte auf.

 

Musik als sinnhafte Sprache
Als wohltuendes Sinneserlebnis erfahren Personen mit Demenz die Musik, wie Prof. Dr. Theo Hartogh, Universität Vechta, berichtete. „Je mehr Demenz fortschreitet, desto wichtiger wird nonverbale Kommunikation“, betonte er. Musik als wortlose Sprache der Emotionen ist aus seiner Sicht eine wertvolle Möglichkeit, um Menschen mit Demenz in ihrer Gefühlswelt zu erreichen. Musizierend und singend können Betroffene „ihre Gefühle und ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen“. Zugleich hat Musik einen beruhigenden Einfluss. „Wir konnten sogar beobachten, dass agiertes Verhalten nach etwa zwanzig Minuten nachlässt, wenn Personen mit Demenz Musik hören.“

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Eine Heimbewohnerin mit Demenz erlebte gemeinsames Singen und Musizieren als „eine glückliche Zeit“. Musik dient dem Erhalt der persönlichen Identität, so Professor Hartogh. Er ermutigte das Publikum, Musik in die Pflege von Menschen mit Demenz einzubeziehen. Dies ist auf vielfältige Weise möglich ‒ beruhigend oder aktivierend, alltagsstrukturierend oder als „Erinnerungsarbeit“. Gemeinsames Musizieren und Singen ermöglicht Personen mit Demenz, „ihre Identität zu zeigen und ihr Empfinden mit anderen Menschen zu teilen“. Professor Hartogh sprach von „musikalischer Validation“: „Es geht darum, die Welt miteinander zu teilen und mithilfe der Musik einen Dialog zu führen“. An die Stelle fehlender Worte kann die Sprache der Musik treten.

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Sinnschöpfung oder Sinnlosigkeit?

Ist Sinn-losigkeit eine notwendige Folge der Demenz? Was gibt Halt, wenn ich vergessen habe, was Halt ist? Wer bin ich, wenn ich vergessen habe, wer Gott ist? Diesen Fragen widmete sich Prof. Dr. Barbara Städler-Mach, Evangelische Hochschule Nürnberg. Im Rahmen eines Forschungsprojekts beobachtete sie, dass Menschen mit Demenz durchaus in ihrer Religiosität Halt finden können. Oft sind es Sinneswahrnehmungen, die religiös geprägte Kindheitserinnerungen wachrufen ‒ das Hören der Kirchenglocken, der Klang von Gebeten, der Anblick eines Kreuzes oder das Betasten eines Rosenkranzes.

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„Der Friede ist in mir“ oder „Wann holt mich Gott?“ ‒ mit solchen Worten bringen Personen mit Demenz ihre Religiosität auch sprachlich zum Ausdruck. Doch Religion stellt nicht immer eine stärkende Ressource dar. Angst vor einem „strafenden“ Gott war immer wieder hörbar. Vieles weist also darauf hin, dass Personen mit Demenz Gott nicht „vergessen“ haben. Somit ist es auch in der Pflege wichtig, „die Religiosität des Menschen mit Demenz einzubeziehen und als Realität anzuerkennen. Die Wertschätzung ihrer Religiosität fördert die Lebensqualität. Die Intensität der Beziehung steigert sich, wenn wir diese Dimension miteinbeziehen“, so Professor Städler-Mach.

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Das Nachlassen des Gedächtnisses löst erschreckende Unsicherheit und Haltlosigkeit aus. Umso wichtiger ist innerer, spiritueller Halt, erläuterte Dr. Dorothee Bürgi aus der Perspektive von «Spiritual Care». Eine Pflege, die Spiritualität einbezieht, kann Personen mit Demenz vier elementare Erlebnisweisen eröffnen: angenommen und verbunden sein, Begegnung und Nähe zu spüren, gemeint und gekannt sein sowie eingebettet sein in ein haltgebendes Grösseres.
Wie bedeutsam das Spüren körperlicher Nähe für Menschen mit Demenz ist, kam in mehreren Referaten zur Sprache. Auch das Thema „Demenz und Sexualität“ war Teil der Diskussion.

 

Märchen und Humor als Sinnquellen
„Es war einmal …“ ‒ professionelles, strukturiertes und bedürfnisorientiertes Märchenerzählen kann bei Personen mit Demenz Kompetenzen aktivieren, die herausforderndes Verhalten ersetzen. Dies berichtete Prof. Dr. Ingrid Kollak, Alice Salomon Hochschule, Berlin. Menschen mit Demenz, die sich laut Pflegedokumentation oftmals apathisch und passiv verhielten, beteiligten sich an der interaktiven Märchenerzählung und zeigten Freude. Agitiertes Verhalten blieb aus. Vokale Störungen, Unruhe und ängstliche Besorgnis waren deutlich reduziert. Märchen sind im Langzeitgedächtnis gespeichert und sprechen die Gefühlsebene an. Dadurch eignen sie sich als sinnvolle „Intervention“, um das Wohlbefinden von Personen mit Demenz zu fördern.

 

„Sich selbst mit Komik zu sehen, eine spielerische und gelassene Haltung einnehmen und eine positive Seite auch in ernsten Situationen bewahren“ ‒ so lautet der Rat des Pioniers der Humorforschung, Paul McGhee. Sinn für Humor kann in manchen Situationen bei der Pflege von Menschen mit Demenz wohltuend wirken, so Prof. Dr. Gabriela Stoppe, Präsidentin der Stiftung Humor und Gesundheit. Untersuchungen belegen, dass Humor das Glücksempfinden erhöht. Agitiertes Verhalten, Angst und Depression lassen nach. Bei Personen mit Demenz bleibt der Sinn für Humor lange erhalten. Respektvoller, behutsamer Humor kann somit eine unverhoffte Hilfe sein ‒ für Menschen mit Demenz und die Betreuenden. Heiterkeit und Lachen machen Mut, aktivieren Selbstheilungskräfte und können ungeahnte Ressourcen wecken. Zugleich vermitteln sie das Gefühl, dazuzugehören und tragen zur sozialen Teilhabe bei. Den Sinn für Humor zu bewahren ‒ dies gehört zu den wichtigsten Aspekten einer sinnerfüllenden Pflege für Personen mit Demenz.

 

„Smoothfood“ ‒ Hauptgewinner des Viventis Pflegepreises

Schön anzusehen, mit angenehmem Geschmack, geschmeidig in der Konsistenz und ernährungsphysiologisch hochwertig ‒ das ist „Smothfood“. Im „Pflegezentrum Mattenhof Irchelpark“, Zürich, kommen Bewohnende mit Essbeschwerden in den Genuss dieser innovativen Esskultur. Dies trägt wesentlich zu ihrer Lebensqualität bei. Für diese Idee erhielt das Pflegezentrum den mit 10.000 CHF dotierten Viventis-Pflegepreis für das beste Praxisprojekt, verliehen durch die Fachstelle Demenz der FHS St.Gallen und die Viventis Stiftung. „Das optisch attraktive und hochwertige Angebot sowie die gelungene Zusammenarbeit zwischen dem Koch und den Pflegenden haben die Jury überzeugt“, so Prof. Dr. Susi Saxer, Leiterin der Fachstelle Demenz und Jurymitglied.

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Den zweiten Preis erhielt das „Memoryplus“-Projekt der Stiftung Amalie Widmer in Horgen bei Zürich. Dort treffen sich Pflegende zwei man monatlich, um Lieder einzuüben, die sie dann gemeinsam mit demenzerkrankten Bewohnenden singen. Musikbiografischer Gesang aktiviert Erinnerungen an die Kindheit, löst positive Emotionen aus und verbindet die singenden Menschen miteinander.
Ein Aromatherapie-Projekt für Menschen mit Demenz im Kantonsspital St.Gallen erhielt den dritten Preis. Die fremde, von Lärm und Hektik geprägte Spitalumgebung wirkt auf Patient(inn)en mit Demenz äußerst belastend. Je nach Präferenz für einen bestimmten Duft kann beispielsweise eine Ganzkörperwaschung mit ätherischem Öl beruhigend wirken und die Orientierung fördern.

 

Alle drei Siegerprojekte sind schöne Beispiele für die Kreativität, die gefragt ist, um das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz zu bewahren ‒ durch Pflege „mit allen Sinnen“.

 

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Hinweis: Der 5. St.Galler Demenz-Kongress findet am 15. November 2017 statt. Im Fokus steht die Frage: «Personen-zentriert pflegen, aber wie?». (Veranstalter: Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule St.Gallen)..Gallen.

 

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