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Rezension: Zum Bindungserleben am Lebensende

 

Bindung am Lebensende: Eine Untersuchung zum Bindungserleben von PalliativpatientInnen und HospizbewohnerInnen von Jakob Johann Müller, Psychosozial Verlag 2018; 260 Seiten.

AngelikaFeichtner

Angelika Feichtner

 

Mit seiner bislang einzigartigen Studie, auf der das Buch basiert, leistet der Autor einen unschätzbar wichtigen Beitrag zum Verständnis der Bindungsbedürfnisse terminal kranker Menschen und ihrer Angehörigen. Das Buch richtet sich an alle im Palliativ-bereich tätigen Professionen, im Besonderen jedoch an Pflegende, MedizinerInnen und PsychotherapeutInnen.

Im Wesentlichen gliedert sich das Buch in vier Abschnitte. Im theoretischen Teil werden die Bindungstheorie und ihre Bedeutung am Lebensende erläutert, im empirischen Teil wird die Studie beschrieben und es werden die verschiedenen Bindungsrepräsentanzen im palliativen Kontext dargestellt. Anschließend erfolgen eine detaillierte Interpretation der Studienergebnisse und die Diskussion der Resultate. Im abschließenden Fazit setzt sich der Autor relativ kurz auch mit den Implikationen für die klinische und seelsorgerische Praxis auseinander.

Ausgehend von der Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth beschreibt Jakob Johann Müller zunächst die Bedeutung frühkindlicher Bindungsmuster für das Erleben von PatientInnen in palliativen Situationen einer Erkrankung. Zentrale Begriffe der Bindungstheorie werden erklärt und die verschiedenen Bindungsrepräsentanzen werden, auch anhand von Praxisbeispielen aus der Entwicklungspsychologie, anschaulich dargestellt.

In der Zeit einer schweren Erkrankung, bei Pflegebedürftigkeit und Angewiesenheit ist ein sicheres Bindungsangebot von größter Bedeutung für die Betroffenen – für die PatientInnen ebenso wie auch für ihre An- und Zugehörigen. Durch die bevorstehende endgültige Trennung werden das Bindungssystem und frühe Bindungsmuster aktiviert. Das Wissen um die bevorstehende Trennung von allem, die Antizipation dieses Verlustes und die Anforderung, letztlich alle bestehenden Bindungen lösen zu müssen, stellt nicht nur für die Sterbenden, sondern auch für ihre Bezugspersonen eine enormen Stressor dar.

Das Erleben einer schweren unheilbaren Krankheit stellt damit eine potenziell bindungsrelevante Situation dar. Die Patienten und Patientinnen in palliativen Krankheitssituationen sind in besonderer Weise auf eine sichere, verlässliche Bindung angewiesen und es liegt an den Betreuenden, solche sicheren und haltgebenden Bindungsangebote zu gewährleisten.

 

Jakob Johann Müller beschreibt Faktoren, die für das Erleben einer sicheren Basis ausschlaggebend sind, wie etwa die Kontinuität des Versorgungsteams, umfassende Information und die Orientierung der Betreuung an die jeweilige Bindungsrepräsentation.

Entsprechendes Wissen der Betreuenden um die verschiedenen Bindungs-und Beziehungsbedürfnisse ist daher unerlässlich um eine „bindungstypengerechte“ und damit patientInnen-orientierte Betreuung zu gewährleisten.

 

Die jeweiligen Bindungsmuster haben einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung von (Pflege-)Beziehungen und auf das Annehmen von Unterstützung. Es ist daher bedeutsam, die Beziehung zwischen PatientInnen, ihren Angehörigen und den professionell Betreuenden als bindungsrelevante Beziehung anzuerkennen.

 

Besonders interessant zu lesen sind die Studienergebnisse. Es wurden 83 Interviews mit PatientInnen an Hospiz-und Palliativstationen durchgeführt. Zusätzlich wurden weitere 32 Bindungsinterviews in die Auswertung mit einbezogen. Angeschlossen an die Studie wurde aber auch noch eine weitere Fragebogenerhebung, in der die Interviewten über ihre spirituelle Krankheitsverarbeitung befragt wurden.

 

Die bindungsdiagnostischen Interviews erfolgten anhand des AAP, einer Serie von acht Bildern die Bindung-und Beziehung relevante Szenen zeigen. Die Analyse der Bindungsnarrative (Seite 111) durch den Autor ist sehr aufschlussreich und überaus interessant zu lesen.

Die sich ergebenden Fragen und Arbeitshypothesen werden detailliert bearbeitet und die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind wertvoll für die Praxis. Obwohl die Studie und die Analyse der Resultate also durchaus bedeutsam und interessant für die Praxis sind, muss doch darauf hingewiesen werden, dass sich das Buch auf die internale Dimension der Bindungspsychologie am Lebensende, also auf die theoretischen Hintergründe beschränkt. Für die Praxis wäre aber auch ein Eingehen auf die verschiedenen Muster des Bindungsverhaltens hilfreich gewesen.

Fazit:Bindung am Lebensende: Eine Untersuchung zum Bindungserleben von PalliativpatientInnen und HospizbewohnerInnen“ von Jakob Johann Müller ist ein empfehlenswertes Buch für alle, die sich theoretisches Grundlagenwissen über verschiedene Bindungsstile und deren Auswirkungen in palliativen Situationen einer Erkrankung aneignen wollen.