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Sie oder Du? Die Anrede im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen

Luksch

Ob formelle („Sie“) oder informelle („Du“) Kommunikation stattfindet, bestimmt ganz wesentlich deren Inhalt und Verlauf mit. Wie sollen professionelle Pflege- und Betreuungskräfte alte BewohnerInnen/ KlientInnen/ PatientInnen anreden – und wann ist ein respektvolles „Du“ sogar fachlich richtig und wichtig?

 

Von DPGKP Christian Luksch, Wien

 

Auf den ersten Blick scheint doch alles klar, da wir im Rahmen unserer Professionalität auch von unseren Schutzbedürftigen stets in der angemessenen Höflichkeitsform – also von Frau Nowak und Herrn Meier sprechen. Wie aber reden wir die Frau Nowak oder den Herrn Meier an, wenn wir mit ihnen direkt kommunizieren? In jeden Fall mit der Anrede Frau oder Herr? Oder darf es schon mal persönlich werden, etwa Grete statt Frau Nowak oder Gerhard statt Herr Meier? Und wie ist das dann mit „Du“ und „Sie“?

 

KlientInnen duzen – darf man das als Profi?

Ein Beispiel, aus dem Leben gegriffen: Kürzlich hatte ein guter Freund das Vergnügen, seine Mutter zum Hausarzt zu begleiten. Endlich willigte die 85-jährige nämlich ein, eine verbindliche „Patientenverfügung“ anfertigen zu lassen. Der Arzt, ein kompetenter und sympathischer Mittdreißiger, begrüßte die alte Dame mit den Worten: „Ja da schau her, die Brunnerin verirrt sich wieder einmal zu mir. Hast du Beschwerden oder willst du mich einfach nur so ein bissl sekkieren?“

Mein Freund war doch etwas konsterniert, als seine betagte Mutter den ärztlichen Gruß salopp quittierte: „Beschwerden hab´ ich nur, wenn du mich schlecht behandelst“.  Nach Abschluss der ärztlichen Beratung fragte er nach, ob seiner Mutter diese Form der Kommunikation tatsächlich angenehm sei – und erntete prompt die Antwort: „Ich kann mit meinem Doktor reden wie ich will und er redet mit mir auch so wie ich (!) will. Dich geht das gar nichts an“. Gut. Das ist Frau Brunner.

 

Aber das ist mehr als Frau Brunner. Das ist auch ein Stück Kultur, die typisch ist für das soziale Gefüge im Inneren des Landes, abseits der Anonymität der Großstadt, in der ein derart vertraulicher Umgang kaum vorstellbar wäre. Im sozialen Umfeld der Landbevölkerung jedich regt das keinen Menschen auf, sondern kann – ganz im Gegenteil – ein Ausdruck freundlicher Vertrautheit sein. Und genau das war für meinen Freund während des gesamten Gesprächs zwischen dem jungen Arzt und der alten Dame intensiv wahrnehmbar.

 

Der soziokulturelle Kontext entscheidet über individuelle Kommunikation

Ähnliches ist oftmals auch – wieder im ländlichen Bereich – in der Langzeitpflege (sowohl von alten als auch geistig beeinträchtigten Menschen) zu beobachten: Pflegende und ihre Schutzbefohlenen duzen einander. Das kann einem (urbanen) Pflegeprofi schon mal das große Fragezeichen auf die krause Stirn zaubern. „Ja dürfen‘s denn das?“ „Natürlich nicht!“, sagt mein gutes Fachgewissen. „Kommt drauf an!“ – entgegnet der Zweifler in mir. „Worauf bitte?“ frage ich zurück. „Ob sie es müssen!“ sagt der Zweifler. Wie bitte? Wer muss hier wen duzen?“

 

Die Frage ob man jemanden duzt oder nicht und wenn doch, unter welchen Umständen dies geschieht, ist eine kulturelle Norm, der wir uns schon früh (aber oft nicht ganz freiwillig) selbst unterworfen haben. Halten wir diese Norm nicht ein, müssen wir mit Konsequenzen rechnen, die von jener Gruppe kommen, die sich diese Norm auferlegt hat. Es ist quasi ein „ungeschriebenes Gesetz“, das nichts desto trotz strengste Geltung hat. Und wenn wir einer solchen Gruppe angehören wollen, dann sind wir gut beraten, auch deren ungeschriebene Gesetze einzuhalten.

Wie gesagt: Es ist eine kulturelle Norm. Aus der sich manchmal auch eine institutionelle Norm, etwa in Form eines Gesetzes entwickeln kann. Wenn Sie im ländlichen Bereich leben, müssen Sie nicht unbedingt Mitglied in einem der örtlichen Vereine – von der Freiwilligen Feuerwehr bis zum Kirchenchor – sein. Wenn Sie nirgends mittun, gehören Sie aber auch nirgends wirklich dazu und bleiben im wahrsten Sinn des Wortes „Außenseiter“. Das ist die Konsequenz.

 

Wer zu duzen oder zu siezen ist, ist meist eine ebensolche, ungeschriebene, kulturabhängige Norm. Kulturen selbst sind aber – zum einen – geografisch bedingt. Was in New York norm(al) ist, kann in Purgstall ein absolutes NoGo sein. Was in Stinatz norm(al) ist, kann für die Leute aus der Großstadt Wien komplett daneben liegen. (Man denke hier etwa an den in Tirol gängigen jedoch nie politisch gemeinten Gruß „Heil“, der in manchen Gegenden Wiens durchaus zu handfesten Schlägereien führen kann).

Kultur ist aber auch historisch bedingt. Was noch vor 50, 30, ja 15 Jahren normal war, kann heute schon komplett befremdlich sein. Sowohl gesellschaftlich (Man stelle sich vor, 1975 wäre jemand in einer kurzen Hose ins Büro gekommen!) als auch individuell („Ich war im Jahr 2000 als 16jährige bei fast jeder Donnerstagsdemo“, beklagte sich kürzlich eine meiner politisch engagierten StudentInnen, „und wir waren viele in meinem Alter. Jetzt gehe ich wieder. Aber ich sehe keine Jugendlichen mehr dabei!“) Na ja, vielleicht, liebe Kollegin, sind Demos für die Kids von heute eben voll „retro“?

 

Zurück aber zum „Sie“ und „Du“. Wenn wir die Art, wie wir einen Menschen anreden, ebenso eine kulturelle Norm ist, dann wird es uns plötzlich nicht mehr seltsam vorkommen, dass im ländlichen Gebieten alte Menschen von den Pflegenden geduzt werden )und umgekehrt). Weil das „Du“ dort eben Norm ist. „Sie“ sagt der Steirer nur zu den „großkopferten“ Arroganzlern aus Wien. Und will von denen auch per „Sie“ angesprochen werden. Aber ja nicht von den „eigenen“ Leuten!

 

Spezielle Kommunikation bei Demenz

Es sollte uns auch nicht seltsam vorkommen, wenn Pflegende ihre zeitverwirrten Schutzbefohlenen mit „du“ ansprechen. Wenn sich Frau Nowak oder der Leitner-Bauer im Rahmen ihrer Demenz selbst als Kind und die Pflegekräfte als ihre Eltern,  Geschwister oder Schulfreunde wähnen, dann legen sie eine Norm an, die zwar nicht mehr heute, wohl aber in ihrer Zeit gültig war (und jetzt wieder ist).

Wir, die wir im Gegensatz zu den Dementen durch die Zeiten gehen können (Naomi Feil nennt dies „die Straßenseite wechseln“) täten grundsätzlich falsch daran, auf die Einhaltung der Normen von heute zu bestehen. Frau Nowak und der Leitner-Bauer würden nicht verstehen, warum sie von ihrem Bruder oder ihrer Mutter (die für sie durchaus real sind) plötzlich angesprochen werden, als seien sie „großkopferte Arroganzler“ aus der Großstadt. Um sie affektiv zu erreichen, müssen wir auf ihrer affektiven Ebene mit ihnen sprechen. Und dann muss manchmal das Du sein!

Gleiches gilt auch im Bereich der Betreuung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen: Kevin hat nie Normen gelernt, weil er es kognitiv nicht konnte. Deswegen wurde er in der Inklusionsklasse, in der Behinderten-WG und in der Werkstätte geduzt. Ihn jetzt zu siezen, würde er bestenfalls nicht, schlechtestenfalls missverstehen. Er ist nur über das „Du“ erreichbar. Und damit ist das „Sie“ keine Wahl mehr, sondern das (respektvolle!) „Du“ Pflicht.

 

Professionelles Handeln erfordert situatives Entscheiden in jedem Einzelfall

Dies ist keinesfalls ein Freibrief für ein „Du“ an alle Menschen mit Demenz oder einer kognitiver Einschränkung. Die jeweilige Situation ist entscheidend. Diese muss in der Pflegeanamnese richtig erkannt und in der Pflegeplanung auch benannt (= dokumentiert) werden. Eine pauschale Begründung genügt hier nicht.

Und es ist auch kein Freibrief alle Menschen, die aus pflegetherapeutischen Gründen geduzt werden, zu infantilisieren. Frau Nowak ist noch immer Frau Nowak. Der Respekt vor der gewordenen Person, ihre Würde, ist immer zu wahren – auch und ganz besonders beim Du.

 

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