Neue Leitlinie zur Behandlung älterer Patienten vorgestellt: „Das geriatrische Assessment muss verändert werden“

Es gibt mittlerweile zahlreiche Methoden, mit denen die Probleme und noch erhaltenen Funktionen eines älteren Patienten bewertet werden. Doch welche der zahlreichen Instrumente passen am besten zu einem bestimmten geriatrischen Patienten? Hier können sich Medizin und Fachpflege leicht überfordert fühlen.

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Beim „Geriatrischen Assessment“ geht es in der ersten Stufe darum, ob es sich bei einer älteren Person überhaupt um einen Patienten mit Bedarf an geriatrischer Behandlung handelt. In einer zweiten Stufe kommen standardisierte Testverfahren unterschiedlicher diagnostischer Tiefe hinzu, teils als Befragung, teils als durchzuführende Aufgabe. Hierfür hat eine Expertengruppe, die sich hauptsächlich aus Mitgliedern der Arbeitsgruppe Assessment der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) zusammensetzt, eine neue S1-Leitlinie „Geriatrisches Assessment der Stufe 2“ erarbeitet.

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Diese wurde jetzt beim Jahreskongress der DGG in Frankfurt/Main vorgestellt. Im Interview spricht AG-Leiterin Dr. Sonja Krupp (li.) über neue Erkenntnisse beim geriatrischen Assessment, die Forderung an Kostenträger und den Nutzen bei der täglichen Arbeit:

Frau Dr. Krupp, warum ist eine Leitlinie zum Geriatrischen Assessment der Stufe 2 notwendig?

Die Leitlinie ist notwendig, weil nach Einführung des sogenannten Barthel-Index zum systematischen Erfassen der Selbstständigkeit und Pflegebedürftigkeit, dem Timed-Up-and-Go-Test, der Mini Mental State Examination und der Geriatrischen Depressionsskala mit 15 Ja-Nein-Fragen diverse weitere Instrumente verfügbar geworden sind, aber bei vielen Geriatern Unklarheit darüber besteht, bei welchen Patienten diese neueren Verfahren den früheren Klassikern überlegen sind. Ein neues Testverfahren am eigenen Hause einzuführen, will wohl überlegt sein, denn die Umstellungsphase wird immer als Mehrbelastung empfunden. Es darf aber nicht sein, dass die verständliche Überforderung von Kollegen – auch denen beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung –, die Vor- und Nachteile der nachrückenden Testgenerationen zu überblicken, zum Beharren auf dem Status von vor über einem Jahrzehnt führt. Eine noch längere Stagnation passt nicht zu einem innovativen Gebiet wie der Geriatrie.

Welche Faktoren standen im Fokus der Leitlinienarbeit?

Zunächst ging es um die Suche nach erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, die trotz der meist maximalen beruflichen Anspannung sowohl Kraft als auch Lust aufbringen, mindestens ein Assessment-Instrument zu „adoptieren“ und im Kontext darzustellen. Dann mussten wir aufpassen, diesen neuen Werkzeugkoffer nicht so groß zu machen, dass die Komplettierung der Leitlinie immer wieder verschoben werden müsste. Es finden noch immer einige Instrumente keine Erwähnung, die bestimmten Kollegen zu Recht ans Herz und Hirn gewachsen sind. Nicht „drin“ zu sein, heißt nicht, überflüssig zu sein.

Was genau sind die Besonderheiten beim Geriatrischen Assessment der Stufe 2?

Diese Stufe enthält fast alle von klinisch tätigen Geriatern eingesetzten Assessment-Instrumente und bildet unter Einbezug der Anamneseerhebung, körperlichen Untersuchung und sonstiger Beobachtungen die Basis der Therapieplanung und -kontrolle. Die Identifikation als geriatrischer Patient ist bei Aufnahme in die Geriatrie in der Regel bereits erfolgt, ein Assessment der Stufe 1 also überflüssig. Ein Assessment der Stufe 3 ist nur punktuell erforderlich – und wird nur selten vom Geriater eigenhändig durchgeführt, sondern oft von beispielsweise Psychologen oder Logopäden.

Und wo liegen hier genau die aktuellen Herausforderungen?

In Deutschland wird zur Abrechnung medizinischer Leistungen ein Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) herangezogen. Das korrekte Durchführen des Assessments der Stufe 2, auch als „geriatrisches Basisassessment“ bezeichnet, ist demgemäß eine der obligaten Voraussetzungen zur Kodierung der geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung. Ohne den daraus folgenden Erlös wäre das Vorhalten des im Team eng zusammenarbeitenden hoch spezialisierten Personals unterschiedlicher Professionen nicht finanzierbar. Wird auch nur in einem der vorgeschriebenen Bereiche das Assessment gemäß Interpretation des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nicht ordnungsgemäß durchgeführt, so kann die Kodierung dieser Prozedur komplett wegfallen; das erscheint mir nicht verhältnismäßig – aber natürlich ist es mir ein Herzensanliegen, dass alles therapierelevante Assessment in einem sinnvollen zeitlichen Rahmen tatsächlich erfolgt. Geriater und der Medizinischer Dienst der Krankenkassen brauchen dringlich Kriterien dafür, wie das Assessment der Stufe 2 individueller und sinnvoller gestaltet werden kann. Dabei hilft die neue Leitlinie.

Welche neuen Erkenntnisse flossen in die Leitlinie ein?

Eine Erkenntnis ist, dass wir auch Bereiche erfassen sollten, die nicht für die oben angeführte OPS erforderlich sind, aber möglicherweise wichtig für unseren Patienten. Dazu gehören Schmerz, Ernährung, Handmotorik, Schläfrigkeit und Sucht. Sowohl die begrenzten zeitlichen Ressourcen auf Seiten des geriatrischen Teams, die mangelnde Belastbarkeit der Patienten und weitere Erkrankungen, die die Assessment-Ergebnisse möglicherweise verzerren, müssen bei der Zusammenstellung des optimalen „Assessment-Fahrplans“ berücksichtigt werden.

Auf welche wesentlichen Kernaussagen lässt sich die Leitlinie zusammenfassen?

Unsere Kernforderung an alle Geriater lautet: Betreiben Sie personalisierte Medizin nicht nur in der Wahl der Medikamente, sondern auch bei der Wahl des Assessments! Die Forderung an Kostenträger lautet: Würdigen Sie das bedarfsgerechte und individualisierte Assessment als eine Form der Qualitätssteigerung – zur besseren Versorgung Ihrer Versicherten!

Wie genau kann diese neue Leitlinie dem Fachpersonal jetzt bei der täglichen Arbeit helfen?

Die Leitlinie enthält eine kurze Darstellung der Kerndaten zu den genannten Assessment-Instrumenten und praktische Tipps zu deren Anwendung. Klassische Fragen aus dem Arbeitsalltag sind: Welche kurzen Tests eignen sich, solitär eingesetzt, um Therapiebedarf in einem bestimmten Bereich auszuschließen, wenn die Anamnese und Befunde bzw. Beobachtungen damit konform gehen? Welche Tests könnten eingesetzt werden, wenn in einem Bereich bereits Hinweise auf Therapiebedarf bestehen? Wie beziehe ich, wenn ich es auf die Untersuchung eines Bereichs abgesehen habe, Funktionsdefizite in anderen Bereichen in meine Überlegungen zur Auswahl des geeignetsten Instrumentes ein? Bei diesen Fragen möchten wir Orientierung bieten. Hausintern können so Entscheidungswege für ein standardisiertes Vorgehen im interprofessionellen Team besser gestaltet werden. Das nimmt uns die Leitlinie nicht ab.

Welche Punkte des geriatrischen Assessments müssen mit den neuen Leitlinie-Erkenntnissen jetzt neu überdacht werden?

Das geriatrische Assessment muss nicht nur überdacht, sondern verändert werden: Das Überstülpen der gleichen Assessment-Schablone über alle geriatrischen Patienten passt in kein Setting! Ich hoffe, dass die neuen Assessment-Möglichkeiten stärker in die Teambesprechungen integriert werden. Das sollte dazu führen, dass das gesamte interprofessionell agierende Team die Ressourcen und Probleme der Patienten schneller kennenlernt und differenzierter darauf eingeht.

 

Leitlinien

Weitere Informationen:

>> Die Leitlinie als Dokument

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