Buchtipp: Österreichs Pflege im Fokus – warum Applaus alleine nicht reicht

Reden wir über Pflege!
Wie oft hören Sie seit Ausbruch der Covid19Pandemie von Krankenhausbetten und Intensivmedizin? Wie oft hören Sie von Pflege? Eben. Dabei wäre das Überleben der Erkrankten ohne entsprechende Pflege ebenso wenig möglich wie ohne Infrastruktur und Medizin. Doris Pfabigan, Elisabeth Rappold, Berta Schrems und Gerda Sailer, Expertinnen aus Theorie und Praxis der Pflege, schließen diese Wahrnehmungslücke. Das Buch „Pflege im Fokus“ erzählt von den Leistungen und Bürden sowie den faszinierenden Facetten dieses Berufs.

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Das Buch entstand vor dem Hintergrund der Covid19Pandemie: In der ersten Welle spendete man dem Pflegepersonal noch Applaus als Anerkennung ihrer besonderen Leistungen und kündigte an, diese zu honorieren. Der Applaus und die Versprechen sind verebbt. Stattdessen wurde von einem Pflegenotstand gesprochen, als osteuropäische 24StundenBetreuerinnen für Privathaushalte nicht mehr einreisen konnten. Diese verzerrte Wahrnehmung in Medien, Politik und Öffentlichkeit wollen die Autorinnen geraderücken.
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Die Covid19Krise verdichtet und verschärft,was sich in den letzten Jahrzehnten angestaut hat,und macht deutlich: Die „Pflegekrise“ hat viel größere Ausmaße und trifft unsere Gesellschaft als Ganzes. Sie hat bereits vor der Covid19Krise bestanden,wird nachher weiter bestehen und sich aller Voraussicht nach verschärfen. Zwar werden immer wieder die schwierigen Rahmenbedingungen und die unangemessene Bezahlung thematisiert, dennoch ist die einzige wahrnehmbare Reaktion auf den Mangel an Pflegenden, dass mehr geringerqualifizierte Personen eingestellt werden und immer mehr und komplexere Aufgaben übernehmen sollen. Für pflegerische Kernkompetenzen ist in akutstationären Einrichtungen angeblich keine Zeit. Pflege wird auf Handlungen reduziert und viele Personen werden möglichst rasch qualifiziert, um „Hände“ für die Arbeit am Bett zu gewinnen. Damit droht die Deprofessionalisierung des gehobenen Dienstes für GuK. Kompetente Pflege braucht aber nicht nur viele, sondern auch gut qualifiziertePflegepersonen.
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Deprofessionalisierung setzt eine Negativspirale in Gang. Krankenanstalten und Pflegeheime können offene Stellen nicht mehr adäquat besetzen.Wenn der Betrieb dennoch irgendwie weiterläuft, führt das zu dem Eindruck, es ginge auch mit weniger Personal. So wird die ohnehin schon bis zum Anschlag angespannte Lage noch verschärft, Interaktionsarbeit findet nicht mehr statt. Dies wiederum befördert Gefühle von AusgebranntSein, Burnout und moralischem Stress bei den Pflegenden, es folgen Arbeitsunzufriedenheit, (innere) Kündigung und Berufsflucht. Das spricht sich herum und wirkt sich wiederum auf die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen und damit die Qualität von Auszubildenden aus. Es scheint, dass die gesellschaftlichen Kosten der Pflege niedrig bleiben sollen und daher nicht ernsthaft versucht wird, den seit langem bestehenden Teufelskreis von schlechten Arbeitsbedingungen und hoher Belastung zu unterbrechen.
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Statt die Rolle der Pflege neu zu denken, wird die Strategie verfolgt, vermehrt niedrigqualifizierte Pflegekräfte einzusetzen und Pflegepersonal aus dem Ausland zu gewinnen. Warum diese Strategie nicht nachhaltig ist und Dequalifizierung die Versorgungsqualität und Sicherheit kranker und pflegebedürftiger Menschen gefährdet, wird in diesem Buch offengelegt.
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In seinen Kapiteln wird aber auch deutlich, dass Pflegeberufe vielseitig, interessant und anspruchsvoll sind, dass sie Berufe mit Zukunft und Potenzial und für ein ganzes Berufsleben geeignet sind. Vielfalt und Facettenreichtum der Pflegeberufe werden anhand der drei wesentlichen Settings Krankenhaus, Pflegeheim und Pflege zu Hause dargestellt. Die Autorinnen lassen Pflegende, Menschen, die Pflege in Anspruch nehmen, und Angehörige zu Wort kommen und zeigen anhand von Erfolgsmodellen auf, warum Pflege das Rückgrat des Gesundheitssystems ist.
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Das Buch macht das Besondere der Pflege sichtbar. Das Anspruchsvolle an der Pflegearbeit ist die Interaktion mit den Betroffenen, die ein hohes Maß an methodischen, sozialen und personalen Kompetenzen erfordert. Der Großteil der Pflegearbeit ist auf den Menschen gerichtet. Pflege wird erst durch persönliche Nähe und Beziehung wirksam, wobei es sich immer um eine professionelle Beziehung handeln muss, da Pflegearbeit als eine körperbezogene, interpersonale Interaktion ständig an den Grenzen der Tabuverletzung, des Zumutbaren, der Scham, des Ekels und der eigenen Betroffenheit stattfindet. Professionalität sorgt dafür, dass diese Grenzen nicht überschritten werden. Pflegearbeit ist immer im jeweiligen Kontext zu sehen,das Handeln muss auf die jeweilige Situation, auf die Gemütslage und Bedürfnisse der zu Pflegenden abgestimmt und daher immer neu adaptiert werden. Professionelle Pflege ist also ganz zentral auf die richtige Einschätzung einer Situation angewiesen und damit niemals nur eine Routinehandlung.
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Dass Sorgeund Pflegearbeit Frauen zugeschrieben wird und Pflegeund Betreuungsberufe mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden, prägt den Stellenwert der Pflege in der österreichischen Gesellschaft. Ein zweites, nicht minder dominierendes Phänomen ist die Ökonomisierung im Gesundheitsund Sozialbereich. Trotz aller technischer Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten bleiben Gefühlsarbeit, Emotionsarbeit und Zugewandtheit aber wichtige Bestandteile der Pflegeberufe. Wenn diese zeitaufwändigen Aufgaben bei Personalknappheit eingespart werden, bedeutet das Geringschätzung und Abwertung und bleibt nicht ohne negative Folgen für Pflegende und Gepflegte. Wenn Arbeitsverdichtung, Zeitdruck und verringerte Entscheidungsspielräume spürbar werden, beeinträchtigt das die Qualität der pflegerischen Versorgung und berührt damit auch die unmittelbaren Interessen der kranken und pflegebedürftigen Menschen.
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Obwohl die Herausforderungen immens scheinen, warnen die Autorinnen vor Mutlosigkeit: Fehlentwicklungen sind keine Naturgesetze, sie können verändert werden. Die hohe Bindung von Pflegepersonen an ihren Beruf und ihr berufliches Selbstverständnis, das an der Sorge für die kranken und pflegebedürftigen Menschen orientiert ist, ist ein enormes Potenzial für Organisationen und Gesellschaft. Um dieses Potenzial zu nutzen, braucht es neben (berufs)politischem Engagement vor allem die Zivilgesellschaft und einen nationalen Schulterschluss zur Sicherung qualitätsvoller Pflege.
Elisabeth Rappold

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In 10 Kapiteln widmen sich die Autorinnen folgenden Themen:

Pflegeberufe: vielseitig, interessant und anspruchsvoll +++ Pflege im gesellschaftlichen Kontext +++ Who cares? – Eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung +++ Pflege zuhause: den Alltag selbstständig bestimmen +++ Das Pflegeheim als Wohn- und Arbeitsplatz +++ Arbeitsplatz Krankenhaus +++ Versorgungsstrategien mit erweiterten Pflegerollen – Beispiele aus anderen Ländern +++ Pflege 2020 – eine Bilanz +++ Quo vadis, Pflege? – Zukunft gemeinsam gestalten +++ Anhang: Kurzprofile von Pflege- und Sozialberufen

Pflege im Fokus. Herausforderungen und Perspektiven warum Applaus alleine nicht reicht.  Herausgegeben von Sailer, Gerda.  Autorinnen: Doris Pfabigan, Elisabeth Rappold, Berta Schrems, Gerda Sailer. Erhältlich ab sofort – auch als e-book –  im SpringerVerlag

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