Last minute-Pflegereform in Deutschland: Bisheriger Flickenteppich wird ohne Vision fortgesetzt

Der Bundestag hat im letzten Augenblick am 11. Juni doch noch eine Teilreform in der Pflege beschlossen. Das von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (re.) initiierte „Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG)“ erntet wenig Lob, aber viel Kritik von vielen Seiten.
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Ein wesentliches Kernstück ist, die Löhne in der Altenpflege zu verbessern. Ab September 2022 werden demnach nur noch solche Einrichtungen mit der Pflegekasse abrechnen dürfen, die Tariflöhne oder Löhne in gleicher Höhe bezahlen. Doch die schwammige Formulierung lässt ein großes Schlupfloch für weitere Dumpinglöhne offen, befürchten Kritiker.

Spahn_epd-Bild_Christian Ditsch

Auch die Kompetenzerweiterung bleibt im zaghaften Ansatz stecken: Pflegefachkräfte erhalten künftig mehr Entscheidungsbefugnisse bei der Auswahl des richtigen Hilfsmittels und Pflegehilfsmittels im Sinne der Pflegebedürftigen. Außerdem sollen die Fachkräfte eigenständige Entscheidungen in der häuslichen Krankenpflege treffen dürfen (z.B. bei Dekubitusversorgung, Kompressionsverbänden, usw.).

Pluspunkte sind der verstärkte Ausbau der Kurzzeitpflege nach Krankenhausaufenthalt sowie ein neu eingeführter Rechtsanspruch auf eine bis zu zehntägige Übergangspflege für den Fall, dass im Anschluss an eine Krankenhausversorgung eine Pflege im eigenen Haushalt oder etwa in einer Kurzzeitpflege nicht sichergestellt werden kann.

Zur Gegenfinanzierung erhält die Pflegeversicherung vom Bund jährlich eine Milliarde Euro. Außerdem soll der Pflegebeitrag für Kinderlose von 3,3 auf 3,4 Prozent des Bruttolohns steigen. „Wer keine Kinder großzieht, hat finanziell weniger Belastung als jemand, der Kinder großzieht“, verteidigte Spahn die Finanzierung.

Einige kritische Reaktionen in Kürze:

Die stv. Vorsitzende der Linksfraktion, Gesine Lötzsch, sagte im Deutschlandfunk, bei den Löhnen der Altenpflegekräfte werde man einen „Flickenteppich“ bekommen. Die Linke fordere daher einen festen Betrag von mindestens 500 Euro mehr Grundgehalt. Sie warf Spahn vor, die versprochene große Pflegereform verschleppt zu haben. Das sei mit der Pandemie nicht zu entschuldigen. Sie hätte „längst vor Corona angefasst werden müssen“, sagte Lötzsch.

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Sabine Jansen (Dt. Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz): „Wir haben lange auf die angekündigte Reform der Pflegeversicherung gewartet. Die nun beschlossenen Änderungen decken davon nur einen kleinen Teil ab.“ An der hohen Belastung durch die Eigenanteile für die Pflege im Heim ändere dies aber nichts. Sie werden auch nach dieser Reform weiter steigen. Deshalb müsse die nächste Bundesregierung mit einer grundlegenden Änderung endlich dafür sorgen, dass Eigenanteile auf einem verträglichen Niveau gedeckelt werden. Die schon seit Jahren geplante Einführung eines „Pflegebudgets“, das die Handhabung der zur Verfügung stehenden Leistungen vereinfachen würde, stehe weiterhin aus. Auch eine inflationsbedingte Wertanpassungs-Automatik der Leistungen fehlt in dem Gesetz.

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Der Berufsverband DBfK kritisierte die Pflegereform als „laues Reförmchen“, die finanzielle Entlastung der Pflegebedürftigen etwa sei völlig unzureichend: „Es braucht einen Systemwechsel in der Pflegeversicherung hin zu einer solidarischen Finanzierung von Pflege mit einem dynamisch steigenden Steuerzuschuss, der dem Bedarf angepasst ist. Pflege muss endlich als Gemeinschaftsaufgabe verstanden werden“, so Präsidentin Christel Bienstein. Zudem ignorierte Minister Spahn die Forderungen und das mangelnde Vertrauen der Berufsgruppe konsequent.

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GF Thomas Knieling vom Arbeitgeberverband VDAB bezeichnet die Reform als „Mogelpackung“ für Pflegeversicherte, eine Zumutung für Pflegeunternehmen und eine schwere Bürde für die Gesellschaft und vor allem für die junge Generation. Denn der finanzielle Eigenanteil der Pflegeversicherten werde nicht wie versprochene begrenzt oder gar gedeckelt – vielmehr gebe es frühestens nach 12 Monaten eine prozentuale Beteiligung der Pflegekassen. Das bedeutet nichts Anderes, als dass die explodierenden Kosten im ersten Jahr der Versorgung voll auf den Pflegebedürftigen durchschlagen und ihn ggf. schon da in die Sozialhilfe zwingen. „Mit dieser Pflegereform gibt es keine Gewinner, sondern eigentlich nur Verlierer.“

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Der Arbeitgeberverband bpa sieht einen „schwarzen Tag für die private Altenpflege“ und die Existenz tausender Pflegeunternehmen gefährdet: „Die Bundesregierung hat gegen die private Pflege entschieden und gefährdet damit die Existenz tausender Pflegeeinrichtungen samt Arbeitsplätzen. Das wird sich auch spürbar auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen auswirken, da die privaten Einrichtungen mehr als 50 Prozent der Versorgung sichern“, so GF Bernd Meurer.

Keinerlei Antwort böte diese Pflegereform für die Unternehmen. Nicht einmal die üblichen Risiken eines jeden Unternehmens müssen verpflichtend berücksichtigt werden, das unternehmerische Wagnis droht komplett unberücksichtigt zu bleiben. Damit gefährde die Pflegereform die Stabilität der Unternehmen, aber auch Arbeitsplätze und sichere Versorgung.“

Ergänzend meint bpa-Präsident Rainer Brüderle, dass die Bundesregierung mit der gesetzlichen Tariftreueregelung in der Pflege unzählige Existenzen von Unternehmen sowie sinkende Löhne und einen Verfassungsbruch riskiere: „Jens Spahn und Hubertus Heil legen mit diesem Gesetz die Axt an die private Pflege in Deutschland.“ Hunderttausenden Pflegebedürftigen drohe der Verlust der professionellen Versorgung.

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Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz befürchtet, die Reform werde die Pflegebedürftigen überfordern: „Schließlich sind die Personalkosten der größte Faktor des Eigenanteils von monatlich 2.068 Euro im Heim. Jetzt sollen von den rund 831 Euro der Pflegekosten im ersten Jahr 41,55 Euro pro Monat von der Pflegekasse übernommen werden. Doch die Bundesregierung selbst rechnet mit einem Lohnanstieg von monatlich 300 Euro. Damit wird der Pflegeheimbewohner also knapp 260 Euro pro Monat aus eigener Tasche zahlen müssen. Selbst im zweiten Jahr im Heim wird der Bewohner im Durchschnitt mit zusätzlich 100 Euro belastet.“

Ein ähnliches Bild zeige sich in der ambulanten Pflege, analysiert Brysch: „Hier versorgen Familien unterstützt von professionellen Diensten rund 1 Million Pflegebedürftige. Der geplante fünfprozentige Zuschlag für die ambulante Pflege wird schon im ersten Jahr von den Lohnsteigerungen überholt. Ebenso fehlt ein Rechtsanspruch auf Kurzzeitpflege zur Entlastung der Angehörigen.“

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Die Gewerkschaft Ver.di sieht im Gesetz keinen hinreichenden Ersatz für den zuvor gescheiterten Flächentarifvertrag. „Wir brauchen ein Gesetz, das wasserdicht ist gegen die absehbaren Versuche vor allem der kommerziellen Pflegeanbieter, Schutzwirkungen für die Beschäftigten zu umgehen“, sagte Sylvia Bühler.

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Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) kritisiert die Pflegereform als nicht weitreichend genug. „Die Pflegebedürftigen in Deutschland hätten eine deutlichere Entlastung verdient“, reklamierte er einen entsprechenden Bundeszuschuss aus Steuermitteln.

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Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) stellte in seiner Stellungnahme nüchtern fest: Man sehe „erheblichen Klärungsbedarf“. Die wesentlichen Ziele einer grundlegenden Reform der Pflegeversicherung wie die nachhaltige Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen, bessere Arbeitsbedingungen sowie die Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe, deutliche Leistungssteigerungen sowie eine zukunftssichere Refinanzierung der Leistungen würden leider nicht erreicht.

DRK-Logo

Bereits jetzt stehe fest, dass in der neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestages weitere notwendige Schritte für eine tatsächlich umfassende, finanziell solide und nachhaltige Reform der Pflegeversicherung unternommen werden müsse.

Über diese grundlegenden Erwägungen hinaus seien Maßnahmen notwendig, die sofort wirksam würden. Insbesondere für eine angemessene Personalausstattung mit besseren Löhnen in der Altenpflege bedarf es nach Einschätzung des DRK „deutlich höhere steuerfinanzierte Bundeszuschüsse“.

> DRK-Stellungnahme zum Download

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Was der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Dr.h.c. Andreas Westerfellhaus, zu diesem Gesetz zu sagen hatte, erfahren Sie in einem aktuellen Interview:

>zum Interview mit Andreas Westerfellhaus (CareTrialog, 04.06.2021)

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Weitere kritische Stimmen präsentieren wir in der nächsten Folge unseres LAZARUS Care Letter am 29. Juni 2021.

 

 

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