Pflegereform: Österreich braucht ein Pflegemodell „aus einem Guss“ – ohne Einzelaktionismus, Finanzierungs-Chaos, Kompetenzwirrwarr

Der von der ´Taskforce Pflege´im Vorjahr eingleiteten Nachdenkphase ist offenbar eine Ruhephase unbestimmter Länge gefolgt – denn es geschieht: Nichts. Jetzt macht ein großer Träger Druck.

Während die Pflegereform stagniert, sei Österreichs Pflegesystem längst auf Abwege geraten, stellte jetzt das Hilfswerk bei einer Pressekonferenz kritisch fest. Der Rechnungshof sowie ausgewiesene Expert*innen seien sich einig: Wir brauchen ein intelligenter gesteuertes, auf Basis seriös erhobener Daten operierendes und bedarfsgerechter gestaltetes System. Die Versorgungskrise ist Realität und verlangt nach funktionstüchtigen Lösungen. Statt schlecht abgestimmter Einzelmaßnahmen und willkürlicher Experimente empfiehlt das Hilfswerk die Orientierung an den Empfehlungen des Rechnungshofes und an guter Praxis – wie beispielsweise an Dänemark. Dort wurde das Pflegesystem grundlegender Reformen unterzogen. Die Würde und Selbstermächtigung der Pflegebedürftigen stand dabei im Mittelpunkt.

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Im Herbst 2020 wurde der Bericht der „Task Force Pflege“ vorgestellt: nicht viel mehr als ein „Protokoll“ des Beteiligungsprozesses und in keiner Weise ein Reformprogramm. „Auf den angekündigten Zielsteuerungsprozess warten wir noch immer. Ohne fachliche und politische Bewertung des Task Force Berichts, ohne klare Prioritäten gibt es kein Reformprogramm mit realistischen Zeit- und Finanzierungsplänen“, zeigt sich Othmar Karas (li.), Präsident des Hilfswerk Österreich, alarmiert.

Die Zielsteuerung Pflege müsse rasch eingesetzt werden, „unter Führung des Bundes, unter entsprechender Einbindung der Länder und Gemeinden und unter Beteiligung der notwendigen Ressorts sowie Expertinnen und Experten“, so Karas. Denn unkoordinierte Einzelmaßnahmen (Community Nurses, Pilotversuche in der Ausbildung, regionale Änderungen der Versorgungsstruktur), ergeben keine tragfähige Gesamtreform.

Vernichtende Rechnungshof-Kritik

Das Hilfswerk, Österreichs nach eigener Angabe grösster Anbieter von Dienstleistungen in der Pflege zuhause, stützt seinen Warnruf nicht nur auf eigene Praxiserfahrungen, sondern auch auf den > Rechnungshofbericht „Pflege in Österreich“. 2020 publiziert, geriet er infolge der Pandemie so gut wie nicht ins Licht öffentlicher Aufmerksamkeit. Elisabeth Anselm (re.), Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich, fasst das Mangelprotokoll des RH so zusammen: „Das heimische Pflegesystem ist ein weitgehend konzeptloses Flickwerk, das wichtige Fragen unbeantwortet lässt: Auf welche Versorgungsziele verständigen wir uns? Welches Versorgungskonzept verfolgen wir? Wie planen und gestalten wir vorausschauend und nachhaltig?“ Es gebe keinerlei konkrete Zielvorgaben. Für eine Systemsteuerung ebenso unerlässliche, seriös erhobene und vergleichbare Daten fehlten. Aber es mangele auch an verbindlichen Prozessen zu einer abgestimmten Steuerung. Die Kompetenzverschneidungen zwischen Bund und Ländern würden die Herausforderung noch befeuern.

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„Kein Wunder, dass Parolen wie ‚mobil vor stationär‘ oft zu Lippenbekenntnissen verkommen und der jährliche Kostenzuwachs für die Pflegeheime die Gesamtausgaben für Hauskrankenpflege und Heimhilfe zu überflügelt. Kein Wunder, dass sich die Versorgungslandschaft von Region zu Region erheblich unterscheidet. Kein Wunder, dass Bund, Länder und Gemeinden einen Kostendämpfungspfad paktiert haben, der dem Plausibilitätscheck des Rechnungshofs nicht standhält. Dass ein Konzept und entsprechende Ziele fehlen, begünstigt Einzelmaßnahmen, die ohne Rücksicht auf ihre Steuerungswirkung umgesetzt werden. Bekanntestes Beispiel: die Abschaffung des Pflegeregresses“, kritisiert Anselm und fährt fort: „Ja, Österreich braucht ein neues Pflegemodell. Denn es hat bisher eigentlich keines.“

Positives Beispiel Dänemark

Dänemark baut schon seit 1987 keine Pflegeheime mehr. Pflegebedürftige werden so lange wie möglich zuhause bzw. im sozialen Nahbereich betreut. Dieses Ziel wird konsequent verfolgt: Ein umfassender Ausbau großzügiger und niederschwelliger Dienstleistungen zur Unterstützung im Alltag, Maßnahmen zur sozialen Integration von Seniorinnen und Senioren sowie die flächendeckende freie Zugänglichkeit von Betreuungs- und Pflegediensten fördern den Verbleib zu Hause.

Die Fokussierung auf Prävention und Rehabilitation fördert die Selbsthilfekräfte der Pflegebedürftigen, verhindert Spitals- und Heimeinweisungen. Ein breites Angebot an neuen Wohnformen – Seniorenwohnungen, Pflegewohnungen – sorgen für entsprechende Alternativen zum Pflegeheim, wenn das Leben in der eigenen Wohnung nicht mehr möglich ist.

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Anfang der 2000er-Jahre reformierte Dänemark die Strukturen seines Pflegewesens. Das staatliche Wohlfahrtssystem mit seinen Monopolstrukturen stand in der Kritik: mangelnde Effizienz, unerfüllte Nutzerwünsche und regionale Ungleichbehandlungen trotz gleicher Steuerleistungen, Intransparenz, mangelnde Kontrolle, wenig Innovation und Kosteneffizienz. Das staatliche Pflegemonopol entsprach nicht dem Bild eines souveränen Individuums, das auch in der Lebensphase der Pflegebedürftigkeit ein Recht auf Wahlfreiheit und die Individualisierung der sozialen Dienstleistung haben sollte.

Die „Dominanz der bürokratischen Logik“ stand dem im Weg. Ziel der Reform war es folglich, die Autonomie der Nutzerinnen und Nutzer zu erhöhen und die Wahlfreiheit durch staatliche UND private Anbieter zu sichern. Ein geordneter Wettbewerb stimulierte fortan Innovationen im Sektor, verbesserte die Qualität der Pflege und „zog“ öffentliche Anbieter „mit“. Auch die Kosten wurden gedämpft.

Neue Pflegepolitik dringend von Nöten

„Das Beispiel Dänemark zeigt: Ohne klare Zielvorstellungen und Mut zum Wandel gelingt keine Reform“, ist Elisabeth Anselm überzeugt. „Wir müssen uns der grundsätzlichen Auseinandersetzung stellen, wir müssen Versorgungsziele definieren, uns ernsthafter mit Daten und Evidenzen beschäftigen, verbindliche Prozesse zur Abstimmung, Planung und Steuerung etablieren. Es geht um tragfähige Versorgungskonzepte, vorausschauende Ressourcenplanung, um das so wichtige Personal und um eine nachhaltige Finanzierung. Es braucht endlich die vielbeschworene Kooperation unter allen Stakeholdern, insbesondere zwischen Bund, Ländern und Gemeinden“, meint Anselm, und appelliert an die politisch Verantwortlichen: „Die Politik muss entscheiden, ob sie den Menschen in Österreich ein Altern in Würde ermöglichen will oder nicht!“

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Abb.: Nur im Bundesland Niederösterreich übersteigt das Angebot „ambulant vor stationär“ signifikant die Betreuung in Heimen – in Wien ist es nahezu umgekehrt.

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Was laut Hilfswerk sofort geschehen muss:

•    Einsetzen der „Zielsteuerung Pflege“ unter Führung des Bundes, unter entsprechender Ein-bindung der Länder und Gemeinden und unter Beteiligung aller betroffenen Ressorts sowie von Expertinnen und Experten,
•    fachliche und politische Bewertung der Vorschläge und Anregungen aus dem Bericht der „Task Force Pflege“ in Zusammenschau mit dem Regierungsprogramm,
•    Erarbeitung und Verhandlung eines abgestimmten politischen Reformprogramms, Klärung von Zielen, Setzen von Prioritäten, Erstellung von Maßnahmen- und Zeitplänen, budgetäre Bedeckung (Finanzierungspfad, Pflegefonds, Finanzausgleich).

Ohne Personal keine Pflege!

„Herzstück einer grundlegenden Pflegereform – und deren Erfolgsvoraussetzung – ist und bleibt eine Personaloffensive. Denn: Ohne Personal keine Pflege“, erinnert Othmar Karas einmal mehr an die wichtigste pflegepolitische Herausforderung. Abschließend appelliert der Hilfswerk-Präsident an die Verantwortungsträgerinnen und -träger in Bund und Ländern: „In Österreich sind rund eineinhalb Millionen Menschen direkt von pflegepolitischen Entscheidungen betroffen, als Pflegebedürftige oder als pflegende Angehörige. In den Pflege- und Betreuungsberufen sind rund 170.000 Personen tätig. Sie alle haben eine ernst gemeinte Pflegereform verdient! Österreich braucht ein zukunftsfähiges Pflegemodell – und eine neue Qualität der Pflegepolitik!“

> „Pflege in Österreich“ (2020) – Zustandsanalyse und Reformvorschläge  des Rechnungshofes an den österr. Nationalrat (PDF, 160 Seiten)

> Das >Video der PK sowie die ausführliche Präsentation, Bilder, Grafiken und Tabellen  finden Sie >hier.

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