Intensivpflegerin Claudia Weiß untersuchte in ihrer Abschlussarbeit an der FH Bielefeld, wie Pflegefachpersonen dank gezielter Schulung die Schmerzen von Patient*innen auf der Intensivstation genauer beurteilen und reduzieren können. Der Effekt: Weniger Leid, schnellere Genesung und finanzielle Entlastung des Gesundheitssystems durch Vermeiden einer Chronifizierung.
Claudia Weiß befragt Patienten zu der Intensität seiner Schmerzen.
Foto: Sarah Jonek
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Viele Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen leiden unter unnötigen Schmerzen. Das kann daran liegen, dass ihre Beschwerden nicht gründlich genug abgefragt werden. Oder daran, dass Patienten sich aufgrund ihrer Erkrankung nicht mitteilen können und das Pflegepersonal deren Schmerzen falsch beurteilt. Ein Grund dafür ist der Personalmangel an Krankenhäusern. Oft wissen die Pflegenden aber auch gar nicht, wie man die Instrumente zur Schmerzeinschätzung richtig einsetzt.
Bedeutung einer exakten Schmerzbehandlung wird unterschätzt – Chronifizierung droht
„Die Entwicklung von Scores und Assessments in der Intensivmedizin gehen zurück bis in die 1980-er Jahre.“, sagt Claudia Weiß, examinierte Krankenschwester und Stationsleiterin auf der chirurgischen Intensivstation des Universitätsklinikums Bonn (UKB). „Leider werden sie immer noch viel zu wenig angewendet.“ Wie man das trotz Pflegenotstand in Deutschland ändern könnte, davon handelt ihre Abschlussarbeit am Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule (FH) Bielefeld. Damit war Claudia Weiß die allererste Absolventin des noch jungen berufsbegleitenden Master-Studienganges „Erweiterte Pflegeexpertise“.
Weiß‘ These ist so simpel wie überzeugend: Wenn Pflegefachpersonen mehr über die korrekte Ermittlung von Schmerzen wüssten, könnten sie den Patienten mit entsprechenden Maßnahmen gezielter helfen. „Die Bedeutung einer adäquaten analgetischen Behandlung wird vielfach unterschätzt“, so die Expertin. „Ein sehr häufiges Phänomen nach Verlassen der Intensivstation ist die Chronifizierung von Schmerzen. Und das ist dann nur noch schwer zu therapieren.“ Die häufigen Folgen: Arbeitsunfähigkeit, Frühverrentung – und lebenslange Schmerzen. Immens sind dabei nicht zuletzt die Kosten für die Gesundheits- und Sozialsysteme.
Wenn Patienten sich nicht mitteilen können, muss man auf ihr Verhalten achten
Wie misst man überhaupt Schmerz? „Eigentlich ganz einfach“, sagt Claudia Weiß. „Man fragt den Patienten, wie er oder sie ihn auf einer Skala von null bis zehn einordnen würde.“ Ist allerdings die Kommunikation mit dem Patienten eingeschränkt, etwa aufgrund einer Intubation, muss die Pflegefachperson drei Komponenten beurteilen: die Angespanntheit des Gesichtsausdrucks, die schmerzinduzierten Bewegungen von Schultern, Armen und Händen sowie den Umstand, ob die maschinelle Beatmung problemlos durchführbar ist oder nicht. Das jeweilige Verhalten des Patienten wird mit Punkten bewertet – das Ergebnis ist ein Hinweis auf die Schmerzintensität. Im Fachjargon heißen die beiden Verfahren Numeric Rating Scale (NRS) und Behavioral Paine Scale (BPS).
Neues Schulungsprogramm zeigt Wirkung
Claudia Weiß (li) bespricht mit Kollegin Kerstin Schaefer die durchgeführten Assessments zur Schmerzintensitäts-Abfrage.
Foto: Sarah Jonek
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Kennt das Pflegefachpersonal diese „Assessments“ ausreichend gut? Claudia Weiß ermittelte das an ihrem eigenen Arbeitsplatz am UKB per Fragebogen und wertete zudem die Patientendaten aus. Dann setzte sie ein 30-minütiges Schulungsprogramm auf, an dem 60 Prozent der Pflegekräfte teilnahmen, und hängte ein Poster mit den wesentlichen Inhalten der Assessments im Aufenthaltsraum auf. „Anschließend habe ich die Fragebogenaktion wiederholt und die digitalen Patientenakten erneut analysiert“, erklärt Weiß ihr Vorgehen. „Und das Ergebnis zeigte zu meiner Freude eine deutliche Verhaltensänderung bei unserem Pflegepersonal. Die Schulungsangebote haben Wirkung gezeigt.“
Mit E-Learning-Programm und Ein-Minuten-Schulungen geht es weiter
Die Pflegefachpersonen wussten nicht nur mehr über NRS und BPS, sondern wendeten vor allem letzteres Assessment auch vollständiger an. „Ich konnte in diesem Punkt einen Zuwachs von 15 Prozent ermitteln“, sagt Claudia Weiß. „Allerdings fand meine Interventionsstudie mitten in der Corona-Pandemie statt. Das Arbeitsaufkommen auf der Intensivstation war dadurch extrem erhöht und sehr herausfordernd. Zu einem anderen Zeitpunkt wären sicher noch bessere Resultate herausgekommen.“
Die Studie ist für Claudia Weiß jedoch nur der Anfang. Gemeinsam mit der Projektgruppe „Zukunftswerkstatt für Pflegefachpersonen“ am UKB hat sie bereits ein E-Learning-Programm konzipiert. Ausserdem sind Kitteltaschenkarten und „One Minute Wonder“ (Ein-Minuten-Fortbildungen) entstanden, die die wichtigsten Schulungsinhalte grafisch abbilden. Auch weitere Forschungen auf diesem Gebiet sind geplant.
„Ich würde es begrüssen, wenn die Assessments zur Schmerzbeurteilung auf allen Intensivstationen des UKB eingeführt würden“, so Weiß. Sinnvoll fände sie auch ein Fachgremium von Personen, die sich an den Einführungen beteiligen und als Mentor*innen im Stationsalltag fungieren.
> Infos zum Studiengang „Erweiterte Pflegeexpertise“ an der FH Bielefeld