Vergangene Woche erhielt das Seniorenheim Franziskusschwestern als derzeit einzige Pflege- und Betreuungseinrichtung in der Stadt Linz das Qualitätszertifikat für Demenzbetreuung nach dem sogenannten „Psychobiografischen Pflegemodell“. Dieses international anerkannte Pflegemodell zeigt, wie Betroffene länger aktiv bleiben können und wie man ihre Lebensqualität steigern kann. Dabei setzt das Modell von Prof. Erwin Böhm auf reaktivierende Pflege, indem die emotionale Biografie des Einzelnen erhoben wird und in den Mittelpunkt der Betreuung rückt.
Seit über 50 Jahren widmet sich Professor Erwin Böhm (77, Bild) mit Leidenschaft der Pflegewissenschaft. Er ist Autor zahlreicher Fachlektüren zum Thema Demenz, hielt unzählige Vorträge und hat eine eigene Einrichtung das ENPP zur Schulung von Altenpflegern gegründet und eine eigenes Gütesiegel zur Bestätigung der Pflegequalität nach seinem Modell geschaffen. Sein Motto: „Zuerst muss die Seele bewegt werden – erst dann der Körper“. Bei der Überreichung der Auszeichnung im Seniorenheim der Franziskusschwestern brachte er sein Modell der reaktivierenden Pflege bei Menschen die an Demenz erkrankt sind während eines einstündigen Vortrags den zahlreichen Zuhörern näher.
Ziel ist die Wiederbelebung der Altersseele
Für Böhm, der als Wegbereiter der modernen Altenpflege gilt, ist die persönliche Geschichte des Erkrankten ausschlaggebend. „Alles begann am 2. Mai 1979. Damals habe ich einen Patienten, der 30 Jahre in der Psychiatrie verbrachte, in seine Wohnung gebracht. Dort stürmte er sofort zu seiner Geige und spielte. Da wurde mir klar, dass etwas falsch läuft bei dem, was ich gelernt hatte und mittlerweile lehrte“, erinnert sich der Pflegewissenschaftler. Trotz Disziplinarverfahren nahm er ab diesem Zeitpunkt beinahe täglich Patienten mit in ihr Zuhause und erfuhr dabei, „dass Pflegeheim und Wohnung zwei verschiedene Welten sind“. Dies war die Geburtsstunde der „Psychobiografischen Pflegetheorie“, bei der die Lebensgeschichte des Patienten im Mittelpunkt steht. Ziel ist die Wiederbelebung der Altersseele. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Werte aus der Kindheit bis zum frühen Erwachsenenalter sind prägend
Grundprinzip des Ansatzes ist, dem Klienten wieder Selbständigkeit zu vermitteln und ihn zu reaktivieren. Das Modell umfasst daher mehrere Bereiche: Milieugestaltung, Entwicklungspsychologie und Normalitätsprozess, bei dem frühere Rollen wieder ausgelebt werden sollen. Denn: man könne viel besser helfen, wenn man sich auf die Gefühlswelt des Erkrankten einstellt, anstatt ihm die eigene Denkweise überzustülpen. „Wenn man z. B. einem alten Menschen, der aufgrund seiner Lebensgeschichte Schmalzbrot liebt, Sushi zu essen zu gibt wird er dieses verweigern. Und wenn er länger nichts isst, wird ihm eine PEG-Sonde eingesetzt, dabei bräuchte man nur die Ernährung seiner Biografie anpassen“, ärgert sich Böhm. Das gilt auch für die täglichen Aktivitäten. Jemand, der gerne in der Natur war, sollte die Möglichkeit haben im Garten zu arbeiten. Jemand, der gerne gekocht hat, sollte in der Küche helfen können. Dadurch würden Erinnerungsinseln geschaffen, basierend auf dem Gefühlsleben der Patienten, deren Geschichte und Vorlieben. Im Zentrum stehen die Werte, die in der Kindheit bis zum frühen Erwachsenenalter gelebt und gebildet werden.
In seinem mehrstufigen Kurs werden Pflegekräfte darin geschult, diese thymopsychische Biografie (d.h. die Gefühlsebene betreffend) zu ermitteln.
Um eine Zertifizierung zu erreichen, muss mindestens 80 Prozent des Personals des jeweiligen Wohnbereichs den ENPP-Grundkurs absolviert haben und das administrative Führungspersonal die fachlichen und ideologischen Grundaussagen kennen.
Über 100 Heime arbeiten in Österreich, Deutschland, Luxemburg, der Schweiz und den Niederlanden bereits nach diesem
Modell. Mit großem Erfolg. Bewohner, die an fortgeschrittener Demenz leiden konnten durch das Setzen der richtigen Impulse wieder reaktiviert werden. Die Medikamentengabe konnte zeitgleich reduziert werden.
Dr. Margarete Siegel, die Leiterin des Seniorenheims der Franziskusschwestern, schildert ihre Erfahrungen: „Wir versuchen, den früheren Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner wieder herzustellen und ein Daheim-Gefühl zu erzeugen. Ein Ansatz um Menschen, die an Demenz erkrankt sind, wieder Würde, Sinn und Lebensinhalt zu geben.“