Überlastete Notaufnahmen der deutschen Krankenhäuser – überraschendes Gedränge oder gewollter Stau?

Langes, ungemütliches Warten: Dem Stau-gewohnten Deutschen widerfährt dies nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Notaufnahmen vieler Krankenhäuser. Letzteren scheint diesr chaotische Ansturm nicht unwillkommen zu sein – ringen doch viele finanziell chronisch „kranke Häuser“ ums Überleben. Doch die „Kundengewinnung“ hat enorme Schwächen: Finanziell unterdotiert, personell unterbesetzt, wenig gastfreundlich gestaltet und ohne effiziente Leit- und Triage-Systeme machen viele Notaufnahmen eher den Eindruck einer zerfledderten Visitkarte. Wie die vielerorts notleidende Kommunikation und Steuerung der Patientenströme in Notaufnahmen durch vielfältige kleinere und größere Maßnahmen ach kurzfristig verbessert werden könnte, hat ein ExpertInnen-Mix in einem Memorandum an Politik und Krankenhausbetreiber jetzt vorgeschlagen.

 

Der Initiator „Pflege e.V.“ will damit erreichen, dass die Hilfesuchenden:

  • freundlich und persönlich angesprochen werden
  • Informationen über die aktuellen Wartezeiten (mit Begründung) erhalten
  • Angebote zur Überbrückung finden (Getränke, Lesematerial u. ä.)
  • verletzliche und gebrechliche Menschen, Kinder usw. besonders empfangen werden.

Daneben sind auch eine rasche Ersteinschätzung und eine angenehme Umgebung mit Sitzgelegenheiten, Farbgebung und ein Lichtkonzept wichtig. Einig sind alle ExpertInnen zudem darüber, dass die Probleme sich zuspitzen und es enormen Entwicklungsbedarf gibt: es geht z.B. um die personelle Besetzung, um die Räumlichkeiten, um Triage-Konzepte, um De-Eskalationsverfahren.

In den letzten Jahren suchen vermehrt verunsicherte Menschen Notaufnahmen der Kliniken auf, eigentlich könnten sie durch andere Hilfssysteme aufgefangen werden. Notwendig ist hier eine Neustrukturierung zur Entlastung der Notaufnahmen (Portalpraxen u. ä.) – wie auch eine wiederkehrende Information der Bevölkerung durch lokale Medien über die Inanspruchnahme der Klinik-Notaufnahmen. Die Klientel besteht zunehmend aus alten und multimorbiden Menschen, daneben aber auch verwirrtem oder aggressiven Personen. Durch den hohen Arbeitsdruck bleiben dringliche Situationen, mit entsprechenden Folgen, unerkannt. Einige Maßnahmen könnten sofort umgesetzt werden und kosten kaum Zeit und Geld.

Notaufnahme-Eingang

Einigkeit herrscht auch über die Unterbesetzung und Unterfinanzierung der Notaufnahmen, die ja eigentlich eine „Visitenkarte“ des Krankenhauses darstellen sollten – der Aufwand wird von den Kostenträgern nicht ausreichend refinanziert. Andererseits unterläuft die Belegungspolitik der Kliniken auch die Möglichkeiten der ZNA. Die in Notaufnahmen tätigen multidisziplinären Teams sollten eigentlich die „Besten“ ihres Faches sein, viele sind sehr engagiert, kommen aber oft an ihre Grenzen.

Gute Wahrnehmungsfähigkeit und Einfühlungsvermögen sind Voraussetzungen für diese Tätigkeit – die Leitungspersonen der ZNA müssen über hervorragende Kompetenzen verfügen und sollten professionell unterstützt werden. Aus diesem Grund soll mit diesem Memorandum den Pflegenden und ÄrztInnen nicht noch mehr abverlangt werden, im Gegenteil, genau diese Mitarbeitenden bedürfen der Solidarität von Politik und Gesellschaft. Seitens des ärztlichen Bereichs sollten ausgebildete Notfallmediziner ständig anwesend sein, für Pflegende wird eine Fachweiterbildung gefordert. Durch permanente Überlastung der Mitarbeitenden meiden diese das häufige Betreten der Wartebereiche – evtl. könnte hier der Einsatz von Servicekräften hilfreich sein.

 

Es gibt zahlreiche, auch kleinere, Verbesserungsmöglichkeiten :

 

Information und Orientierung der Hilfesuchenden verbessern,

Durch verständliche und informierende Poster und Filme lassen sich schon viele Informationen in der Notaufnahme multiplizieren, mehrsprachige Beispiele liegen vor – nicht gemeint sind Werbevideos der Kliniken. Dazu könnte auch geeignetes Film- und Aufklärungsmaterial zentral entwickelt werden. Vorstellbar wären auch Info-Apps für die Nutzer, durchaus mit der Chance, den Wartebereich zu verlassen – selbst „Pizza-Pager“ können für Entlastung sorgen. Das Notfall-Team sollte regelmäßig geschult werden, um sensibel für Kommunikation zu bleiben, eine Besprechungskultur, Supervisionen, überhaupt „Selbstpflege“ sind notwendig.

Wertschätzung der Arbeit in der ZNA

Die Klinikleitungen sollten wertschätzend auf das Aushängeschild ihres Hauses achten und deren Mitarbeitende kontinuierlich informieren. Monitoring und eine Fehlerkultur gehören dazu. In der Patientenannahme sollten bürokratische Fragen nicht das Klima dominieren.

Präsenz, Zuständigkeiten, Räume

Eine klare Zuständigkeit mit Rückmeldungen beruhigt Patienten und Angehörige und auch die häufige Präsenz der Mitarbeitenden hilft. Eine Bezugsperson des Patienten sollte den Behandlungsprozess begleiten dürfen und nicht heraus geschickt werden. Ein einziger unruhiger Patient kann eine ganze Gruppe Wartende zu vermehrter Aggressivität anstiften.

Notaufnahme-Wartezone

Oft lassen sich Räume nicht umwidmen, durch interne Gestaltung sollte es aber möglich sein, Klienten bei Bedarf zu separieren. Angenehme Räume, mit WLAN ausgestattet, sollten das Warten erleichtern. Eine Rezeption bietet zum Teil auch ballistische Schutzfunktion.

 

Zertifizierungen

Die Konzepte zur Zertifizierung von Notaufnahmen sind um diese Aspekte zu erweitern. Neben den medizinischen und pflegerischen Notwendigkeiten sind Aspekte der Patientenfreundlichkeit und der interdisziplinären Zusammenarbeit hervorzuheben. Eine gute Wirkung scheinen auch „Best-Practice-Beispiele“ zu haben, gut funktionierende ZNA sollten an die Öffentlichkeit treten und Preise erhalten. Anzuregen sind auch Peer-Review-Verfahren, gegenseitig zu hospitieren und sich zu beraten.

 

Insgesamt zeigt sich das Feld „Notaufnahmen“ auch als wichtiges Forschungsfeld, um die Probleme zu differenzieren und Lösungen auszuprobieren. In einer jüngeren Studie zum Thema „Warten“ wurde festgestellt, dass für die Hilfesuchenden eine rasche Erstsichtung (Triage durch Pflegende) wichtig ist. Auch durch dem bald folgenden Arztkontakt werden erleben und Wartezeit subjektiv positiver beurteilt. Aussagen der ZNA-Mitarbeitenden wie: „Moment“, „Augenblick“ oder „gleich“ sind zu vermeiden, denn diese Ankündigungen implizieren wenige Minuten und wecken falsche Erwartungen, die ggf. in Eskalationen münden. Bei längeren Wartezeiten muss kontinuierlich orientiert werden. Wichtig ist die Botschaft: „Wir haben Dich in Deiner Not wahrgenommen und kümmern uns um Dich“.

 

Als Mittel zu diesem Zweck fordert das Memorandum:

  • Gut aus- und fortgebildetes Personal in den Notaufnahmen
  • Schnelle Erstsichtung durch Pflegende bzw. Ärzte
  • Organisatorische Entlastung des medizinischen Fachpersonals durch Servicekräfte
  • Verständliche, mehrsprachige Filme und Broschüren, die über die Angebote von und Alternativen zur Notaufnahme informieren
  • Pager-Systeme wie in vielen Restaurant-Ketten, die es den Wartenden ermöglichen, die eigentliche Wartezone zu verlassen und gerufen zu werden, wenn es „weiter“ geht
  • Wertschätzung der Klinikleitung und mehr Supervision für das Fachpersonal
  • Schaffung von getrennten Wartezonen für verletzliche und gebrechliche Personen
  • Bezugspersonen sollten bei einer Untersuchung anwesend sein können und nicht rausgeschickt werden dürfen
  • Eine klare Verteilung der Zuständigkeiten für die Rückmeldung an Patienten und/oder wartende Angehörige
  • Raumkonzepte, Lichtarchitektur und sonstige angenehme Atmosphäre schaffen
  • Eine Zertifizierung von Notaufnahmen nicht nur nach medizinischen Aspekten, sondern auch für eine gute Patientenfreundlichkeit
  • Schulung in Deeskalation und „Wartekommunikation“

 

Diese Ideen und Anregungen versenden die Initiatoren derzeit an Politik, Kassen, Krankenhausträger und andere Institutionen. Sie erhoffen sich daraus viele kleine Initiativen zur Verbesserung der Wartesituation in Notaufnahmen.

 

Der multidisziplinäre Expert*innenkreis dieses Memorandum:

  • Prof. Dr. Christel Bienstein, Vorsitzende Pflege e.V., Präsidentin DBfK*, Universität Witten/Herdecke (UWH)
  • Prof. em. Dr. Gisela Brünner, Linguistin, Schwerpunkt Gesundheitskommunikation, Dortmund
  • Bernd von Contzen, Pflege Leitung, ZNA, Uniklinik Düsseldorf
  • Margot Dietz-Wittstock, M.Sc., Pflege-Leitung, ZNA, Flensburg, Vertreterin der DGINA*, Flensburg
  • Johanna Gossens, MsCN, Med. Controlling, Klinikum-Lüdenscheid
  • Oliver Gengenbach, Notfall-Seelsorger, Witten
  • Matthias Grünewald, Pflegepädagoge, Bildungszentrum, Uniklinik Düsseldorf
  • Natascha Isleib, Pflege-Leitung, ZNA, Städt. Klinikum Solingen
  • Martin Meilwes, Berater, Gesellschaft für Risikoberatung, Detmold
  • Dr. German Quernheim, Fachbuchautor, Trainer und Pflegewissenschaftler, Montabaur
  • Dr. Patric Tralls, Chefarzt Zentrale Notfallambulanz, Städt. Klinikum Solingen, Vertreter der DIVI*
  • Prof. Dr. Angelika Zegelin, Pflegewissenschaftlerin, Fachbeiratsvorsitzende Pflege e.V., vorm. UWH, Dortmund
  • DBfK* – Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe
  • DGINA*- Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall-und Akutmedizin
  • DIVI* – Deutsche Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin

 

Zur Quelle:

Der Pflege e.V. ist ein kleiner Verein mit der Aufgabe, pflegewissenschaftliche Erkenntnisse in die Versorgungspraxis zu bringen. Vorbild für diese Aktivität zu den Notfallaufnahmen ist ein überaus erfolgreiches Projekt zur Zertifizierung von Angehörigen-freundlichen Intensivstationen (vereinbarte Besuchszeit jederzeit). In diesem Projekt sind in den letzten 10 Jahren über 250 Intensivstationen ausgezeichnet worden.

image_pdfimage_print