Editorial – socialnet.de: Digitale Chancen und Risiken für die Sozialwirtschaft

Digitalisierung Pflege

Im aktuellen Editorial des Newsletters der Plattform socialnet.de werden die Auswirkungen des Digitalen Zeitalters auf das Sozial- und Gesundheitswesen betrachtet. Während die bisherigen EDV- und Automatisierungstrends in erster Linie Industrie und Handwerk betroffen haben, werden sich die kommenden Entwicklungen zunehmend auch auf den Dienstleistungsbereich auswirken.

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Information

Immer mehr Informationen sind weltweit und überwiegend kostenfrei verfügbar.

  • Der informierte Patient diskutiert alternative Behandlungen mit dem Arzt, erkennt (vermeintliche) Behandlungsfehler und gibt seine Bewertung auf einem Ärztebewertungsportal ab. Vergleichbares gilt zumindest für einen Teil der Klienten sozialer Dienstleistungen und ihre Angehörigen.
  • Selbsthilfegruppen können sich räumlich verteilt organisieren und die Mitglieder einander beistehen, auch wenn die Mobilität eingeschränkt oder bei seltenen Erkrankungen die räumliche Distanz groß ist.
  • Fachlich auf einem aktuellen Stand zu bleiben wird einfacher – dazu trägt auch socialnet mit seinen Fachinformationen bei. Dadurch wird aber auch zunehmend erwartet, dass aktuelle Informationen bei Beratung und Therapie berücksichtigt werden. Die Halbwertszeit des Wissens sinkt.
  • War früher der Zugang zu Informationen der Engpass, liegt dieser heute bei der Auswahl und Bewertung. Veraltete, unvollständige, missverständliche, fehlerhafte und interessengeleitete Informationsangebote müssen zuverlässig erkannt werden. Urban Legends, Trolle, Hatespeech und selbsternannte Heilsbringer stellen nicht unbedingt eine Bereicherung des Informationsangebotes dar, zumindest wenn nach valider Fachinformation gesucht wird.

Das online verfügbare Wissen wird auch künftig rapide zunehmen. Neben Fachinformationen werden künftig erhebliche verfügbare Datenmengen (Big Data) ganz neue Auswertungen ermöglichen

Kommunikation

Der Friseur verschickt schon automatisch eine Terminerinnerung per SMS und E-Mail. Und die Schuldnerberatungsstelle?

Kommunikationskanäle, Ausdrucksformen, Auslöser von Kommunikation und Aufmerksamkeitsspannen verändern sich durch neue Medien. Eine gute, auf dem Smartphone funktionierende Website sollte selbstverständlich sein, reicht aber schon lange nicht mehr, um öffentlich zu kommunizieren. Die Bedeutung einzelner Social Media Kanäle unterliegt laufenden Veränderungen. Da Sprachkommunikation mit dem Smartphoneassistenten zunimmt, wird eine Suchmaschinenoptimierung für Sprachsuche und die örtliche Referenz (lokale Suche) immer wichtiger. Die Frage „Wer kann mir bei Schulden helfen?“ sollte Ihre Beratungsstelle als ersten – und bei Sprachausgabe ggf. als einzigen – Treffer liefern, wenn die Anfrage in der Nähe Ihrer Einrichtung gestellt wurde.

Für die individuelle Kommunikation mit KlientInnen entwickelt sich der Mix aus Gespräch, Print, Telefon, E-Mail, SMS/Chat ebenfalls laufend weiter. Die Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle muss bewertet, geregelt und geschult werden. Im weiteren Umfeld gehören dazu auch Sprachsteuerung für Smartphone und Smart Home sowie mittelfristig ggf. Zugang zu virtuellen Welten.

Geschäftsprozesse

Ohne eine leistungsfähige, integrierte Branchensoftware sind gesetzliche Anforderungen, Klientenerwartungen und hohe fachliche Standards mit den vorhandenen Ressourcen nicht mehr zu gewährleisten. Erfolgsfaktoren sind flexible Anpassbarkeit, laufende Weiterentwicklung der Software und branchenkundiger, kompetenter Support vor Ort.

Erstes Ziel ist eine durchgehende Digitalisierung interner Abläufe von der Terminvereinbarung bis zur Buchhaltung. Dabei sollten alle regel- oder musterbasierten Abläufe so weit wie möglich automatisiert werden, aber weiterhin steuernde Eingriffe möglich bleiben, um Ausnahmen handhaben zu können.

Zweites Ziel ist die Einbindung externer Partner von Lieferanten bis Sozialleistungsträgern. Die Digitalisierung erleichtert dabei die vernetzte Leistungserbringung im Verbund.

Besondere Bedeutung erhalten künftig Plattformen zur Leistungsvermittlung ggf. in Verbindung mit Bewertungsportalen (vergleichbar mit Hotelbuchungsportalen), die einerseits zu einer neuen Markttransparenz führen können, andererseits die Margen für Leistungserbringer belasten.

Leistungserbringung online

Während Onlineberatung nur eine Verlagerung auf ein neues Medium mit anderen Rahmenbedingungen (niedrigschwellig, anonym, räumlich ungebunden etc.) darstellt, bieten Chatbots und Therapiesoftware bzw. -apps Automatisierung und 24/7-Servicebereitschaft.

Auch wenn Software nicht „empathisch“ sein kann, wird ihr von der menschlichen NutzerIn Empathie entgegengebracht. Software ist immer auf den programmierten Rahmen begrenzt, dafür aber geduldiger, stets aufmerksam und objektiv. Insbesondere Smartphoneapps können zudem auf eine Vielzahl von Userdaten zurückgreifen, so z.B. Apps gegen exzessiven Smartphonegebrauch auf die Nutzungszeiten und -häufigkeiten. TherapeutInnen und BeraterInnen können Therapiedaten automatisch aufbereitet bekommen. Sie können bei kritischen Konstellationen automatisch hinzugezogen werden oder jederzeit auch manuell in den Therapie- oder Beratungsprozess eingreifen bzw. von der KlientIn angefordert werden.

Hilfsmittel und Roboter

Anspruchsvolle Hilfsmittel, z.B. Cochlea-Implantate, sind bereits seit Jahren erprobt. Immer ausgefeiltere Prothesen, Exoskelette, Steuerung von Hilfsmitteln durch Nervenimpulse, erste Anbindungen an den Sehnerven und die Idee der Hirnimplantate zeichnen den Weg der weiteren Entwicklung. Mensch, Implantat, lokale Software und Cloud verschmelzen zu neuen Einheiten. Die künftigen Möglichkeiten führen u.a. zu neuen Sicherheitsrisiken und ethischen Fragestellungen.

Auch Roboter, z.B. für Operationen, sind bereits ein etabliertes Anwendungsfeld. Neu hinzu kommen derzeit weitere vielfältige Anwendungszwecke, z.B. Lagerung von PatientInnen, Kommunikation mit Demenzerkrankten, Anleitung zu Rehabilitationsübungen und Assistenz im Haushalt. Technische Entwicklungen wie Sprachsteuerung, mimisches Feedback, Bildanalyse z.B. zur Erkennung von kritischen Situationen und „intelligente“ autonome Handlungsprogramme weiten die Einsatzmöglichkeiten in einem rasanten Tempo aus.

Die sich abzeichnenden Fähigkeiten einer flexiblen Mensch-Roboter-Interaktion bieten vielfältige Anwendungsszenarien vom Krankenhaus über die Pflege bis ins Smart Home. Auf dem Weg dahin sind erheblicher Entwicklungsaufwand zu leisten, der rechtliche Rahmen zu klären und die gesellschaftliche Akzeptanz zu berücksichtigen.

Im Smart Home verbinden sich die Möglichkeiten von Hard- und Software zu Ambient Assisted Living (AAL). Während der antiquierte Hausnotruf dank Smartphone, G5 und Gallileo absehbar zum Weltnotruf für jedermann wird, entwickelt sich das Heim zu einer „intelligenten“, beschützenden Umgebung. Die Unterstützung reicht von Sicherheitsvorrichtungen (automatische Herdabschaltung) über die komfortable Sprachsteuerung für Licht, Rollladen, etc. bis zur externen Assistenz, die mit entsprechender Genehmigung auf die Videoübertragung und Daten des Smart Homes zurückgreift. Die integrierte Roboterassistenz, u.a. mit Medikamentenabgabe und Hilfe bei Alltagsverrichtungen, ist da nur der letzte Baustein.

Lernen

Der technologische und gesellschaftliche Wandel wird – nicht nur im Beruf – erhebliche Anpassungsleistungen erfordern. Aber nicht nur der Lernbedarf erhöht sich drastisch, z.B. wenn bis zu 40% der aktuellen Berufe wegfallen, sondern auch die Lernmethoden stehen vor erheblichen Umwälzungen.

Webinare lösen die Bildungsveranstaltung von einem bestimmten Ort, Lernsoftware entkoppelt die Bildung zudem von bestimmten Zeiten. Neben reinem E-Learning spielt Blended Learning, also die Mischung von Präsenz- und Onlinelernen, eine wichtige Rolle. So kann z.B. beim Sprachenlernen in der Präsenzveranstaltung die Kommunikation in Rollenspielen erprobt werden und online werden Vokabeln sowie Grammatik trainiert. Im beruflichen Alltag hilft Microlearning konkrete Situationen zu bewältigen: ein kurzes Video oder Tutorial vermittelt innerhalb weniger Minuten die gerade benötigte Kompetenz und der Praxistransfer erfolgt unmittelbar danach.

Das Sozial- und Gesundheitswesen ist dabei selbst Adressat der neuen Lernformen, aber als Bildungsanbieter auch gefragt, die neuen Möglichkeiten in eigene Angebote zu integrieren.

Die Loslösung von einem bestimmten Ort stellt für viele Träger eine besondere Herausforderung dar, weil sie durch ihre Statuten auf einen bestimmten Raum (z.B. als Kreisverband) festgelegt sind oder weil ihre Kostenträger (Kommune) nur für einen bestimmten Raum die Finanzierung übernehmen wollen. Die räumliche Entkopplung fördert zudem eine Anbieterkonzentration, weil z.B. ein großer Anbieter qualitativ besseren Service anbieten kann: So kann der führende Onlinetherapieanbieter leichter rund um die Uhr ein Expertenteam vorhalten kann, dass ad hoc für menschliche Interventionen zur Ergänzung der Therapiesoftware zur Verfügung steht.

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