Druck auf deutsche Gesundheitspolitik wächst: Wann kommt „Pflegegeld“ für berufstätige Angehörige?

Nahezu 90 Prozent der Bevölkerung befürworten aktuellen Umfragen zufolge bereits eine steuerfinanzierte Lohnersatzleistung für berufstätige Angehörige, die wegen der Pflege ihre Berufstätigkeit deutlich einschränken oder sogar aufgeben müssen. Auch Deutschlands Familienministerin schließt sich mittlerweile dieser Forderung ausdrücklich an, während Gesundheitsminister Jens Spahn sich weiterhin aktionistisch auf Nebenschauplätzen beschäftigt.

Geldübergabe

Nach rund vier Jahren Arbeit hat der „Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ seinen ersten Bericht vorgelegt. Darin fordert er u.a. eine steuerfinanzierte Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige, die auf Grund von Pflegeverantwortung ihren Beruf reduzieren oder aufgeben müssen. Diese soll es für 36 Monate pro pflegebedürftige Person geben. Zudem müsse das zinslose Darlehen der Pflegezeit und Familienpflegezeit, das seit Jahren kaum in Anspruch genommen wird (LAZARUS berichtete), abgeschafft werden.

Elterngeld ja, Pflegegeld nein?

„Dass unsere Gesellschaft berufstätige Eltern für die Versorgung von Kindern mit dem Elterngeld finanziell unterstützt, Angehörige sich aber für die Pflege von kranken Menschen verschulden müssen, ist schlichtweg ungerecht.  Es ist daher ein starkes Zeichen, dass der Beirat unsere Forderung nach einer 36-monatigen Lohnersatzleistung unterstützt“, sagt Christian Pälmke, pflegepolitischer Sprecher der Interessenvertretung wir pflegen e.V.

Homecare Symbolfoto_dpa-Caroline Seidel

 

Deutschland-weit fehlen bereits heute mehr als 120.000 Pflege-Vollzeitkräfte. Bund und Länder wären daher gar nicht in der Lage, die Leistungen der pflegenden Angehörigen professionell zu übernehmen (Foto: RP/dpa, Caroline Seidel)

 

Der Bericht umfasst viele weitere Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. So müsse auch der Anspruch auf Pflegeunterstützungsgeld für kurzfristige zehntägige Auszeiten nicht als einmalige, sondern als jährliche Leistung erweitert werden. Mit der Forderung zur Abschaffung von betrieblichen Schwellenwerten war wir pflegen als Stimme der Angehörigen nicht erfolgreich. Diese regeln, ab wann Arbeitnehmer*innen einen Anspruch auf Leistungen haben. Hier schlägt der Beirat vor, dass Schwellenwerte zwar für eine sechsmonatige Vollfreistellung wegfallen, bei einer teilweisen Freistellung jedoch beibehalten werden.

Enttäuschend ist die Haltung der Arbeitgeber und Kommunen, die im Wesentlichem an den bestehenden Regelungen festhalten wollen. Es seien keine rechtlichen Leistungsausweitungen notwendig. Zudem würden Arbeitgeber ihre Beschäftigten bereits ausreichend unterstützen. Die Realität sieht leider anders aus: So haben bislang 58 Prozent der Unternehmen noch keine Maßnahmen für pflegende Angehörige etabliert.

Win-win Situation für alle schaffen und der millionenfachen Armutsfalle wirksam vorbeugen!

„Arbeitgeber sollten in Zeiten des Fachkräftemangels großes Interesse daran haben, ihre Mitarbeiter zu unterstützen, zu binden und neue zu gewinnen. Ohne eine angemessene Vereinbarkeit von Pflege und Beruf wird dies nicht gelingen. Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist besser für alle – für Arbeitgeber, Arbeitnehmer*innen und pflegebedürftige Personen, die auf ihre Angehörigen angewiesen sind“, betont Susanne Hallermann von wir pflegen e.V. Zudem ist die Angehörigenpflege in den eigenen vier Wänden auch für die Steuerzahler weitaus kostengünstiger als der Bau und Betrieb von hunderten zusätzlichen Pflegeheimen. Und: Nicht zuletzt würde mit dem geforderten Lohnersatz wirksam dagegen vorgebeugt, dass Millionen pflegender Angehöriger – vor allem Frauen – durch die Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung unausweichlich in die Armutsfalle abrutschen.

Die Forderung nach einer Lohnersatzleistung findet mittlerweile breite Unterstützung. Bereits 89 Prozent der Bevölkerung befürworten eine Lohnersatzleistung für berufstätige pflegende Angehörige. Auch Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey hat sich deutlich dafür ausgesprochen. Noch in dieser Legislaturperiode müssen daher die Forderungen des Beirates angepackt werden.

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Hintergrund

Pflegende Angehörige sind die tragende Säule unseres Pflegesystems. Millionen von Angehörigen und Freunden leisten über 75% aller Pflege in Deutschland. Ihr menschlicher und wirtschaftlicher Beitrag für das Wohl pflegebedürftiger Personen und unserer gesamten Gesellschaft bedarf besserer Wertschätzung. Was das für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf bedeutet, hat wir pflegen e.V. in einem Positionspapier (siehe u.) zusammengefasst.

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Quellen:

Unabhängiger Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf (Juni 2019): Erster Bericht des unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, Berlin.

wir pflegen e.V. (Januar 2019): Vereinbarkeit von Pflege und Beruf! Forderungen und Lösungen pflegender Angehöriger, Berlin.

Zentrum für Qualität in der Pflege – ZQP (2018): Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – 2018, Berlin.

Ärzte Zeitung online (27.06.2019): Große Zustimmung für Pflegegeld für Angehörige, Köln.

Rheinische Post online (24.08.2019): Vorstoß für pflegende Angehörige: Giffey für Pflegegeld analog zum Elterngeld, Düsseldorf.

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