Niedersachsen: Pflegekammer wird nach nur drei Jahren wegen kleiner Protestminderheit gesetzlich aufgelöst

Die Pflegekammer Niedersachsen wird nach nur drei Jahren Anlaufzeit auf Grund eines kleinen Minderheiten-Votums völlig überstürzt wieder aufgelöst. Warum diese kurz bevorstehende Entscheidung des Landtags verfassungsrechtlich höchst problematisch ist – sie hat etwa das Allgemeinwohl nicht im Blick -, erklärt Rechtsprofessor Winfried Kluth (Bild) von der Universität Halle-Wittenberg:

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Der Landtag von Niedersachsen will durch das „Gesetz zur Umsetzung der Auflösung der Pflegekammer Niedersachsen“ nach gut drei Jahren die im bundesweiten Vergleich dritte deutsche Pflegekammer schon wieder auflösen und zugleich die in den Jahren 2018 und 2019 erhobenen Beiträge zurückzahlen. Diese Kehrtwendung kostet den Steuerzahler Millionen und wirft nicht nur die Frage auf, wie es zu einer derartig radikalen Änderung der Beurteilung von Sinn und Zweck einer Pflegekammer in relativ kurzer Zeit kommen konnte? Vor allem wenn man bedenkt, dass im Nachbarbundesland Nordrhein- Westfalen die dort gegründete Pflegekammer gerade ihre Arbeit aufnimmt.

Auflösung der Kammer: ein historisch einmaliger Vorgang

Kritische Aufmerksamkeit verlangt vor allem das zur Begründung dieses Gesetzgebungsaktes herangezogene Ergebnis einer Befragung der Kammermitglieder, bei dem sich 70 Prozent für die Auflösung der Kammer ausgesprochen hatten, weil sie deren Nutzen nicht erkennen. Es handelte sich aber nicht um 70 Prozent der gesetzlichen Kammermitglieder, sondern um 70 Prozent der weniger als 20 Prozent der Kammermitglieder, die sich an der Befragung beteiligt haben, also hochgerechnet um 14 Prozent der Mitglieder. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das eine tragfähige Begründung für einen so weitreichenden und kostspieligen Gesetzgebungsakt sein kann – und ob es mit Blick auf die durch das Demokratieprinzip verlangte Herrschaft des Volkes überhaupt zulässig ist, dass sich der Landesgesetzgeber in die Geiselhaft von Umfrageergebnissen begibt, an denen nur ein winziger Bruchteil des Staatsvolkes beteiligt war.

Im Ausgangspunkt ist allerdings zunächst zu konstatieren, dass nicht nur die Errichtung, sondern auch die Auflösung von Kammern im Ermessen des zuständigen Gesetzgebers steht. Anders als im Fall der kommunalen Selbstverwaltung, die durch das Grundgesetz zwingend vorgeschrieben wird, ist keine der in Deutschland bestehenden Kammern durch das Verfassungsrecht in ihrer Existenz abgesichert. Insoweit ist es auch das gute Recht des Landesgesetzgebers, die 2016 getroffene Entscheidung zur Errichtung der Kammer zu revidieren.

Historisch ist es indes ein einmaliger Vorgang. Denn in der Zeit nach 1949 wurde in Deutschland lediglich in Hessen die Kursmaklerkammer aufgelöst, dies allerdings als Reaktion auf die Privatisierung der Frankfurter Börse, die zugleich mit einer Veränderung des Berufsrechts verbunden war. Im Übrigen führten nur Fusionen von Kammern dazu, dass einzelne von ihnen nicht mehr fortbestehen.

Kammern müssen öffentlichem Interesse dienen

Das Auflösungsgesetz ist auch nicht als solches, sondern mit Blick auf die politische Motivation sowie die vorgetragene Begründung verfassungsrechtlich höchst problematisch. Gesetzgebung – und so auch die Gründung und Auflösung von Kammern – ist in einem demokratischen Verfassungsstaat dem Gemeinwohl und dem öffentlichen Interesse verpflichtet. Das klingt banal, wird durch das vorliegende Gesetz und seine Begründung aber grundlegend verkannt. Die Entscheidung basiert alleine auf der Beurteilung der vergleichsweise kurzen Kammerarbeit durch ein Fünftel der Mitglieder und blendet damit sämtliche öffentlichen Interessen aus, die an der Arbeit und dem Fortbestand der Pflegekammer bestehen.

Kammern mit gesetzlicher Pflichtmitgliedschaft können nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht deshalb gegründet werden, um die Durchsetzung der Interessen eines Berufsstandes zu verbessern. Es müssen legitime Gemeinwohlbelange verfolgt werden, für die eine gesetzliche Pflichtmitgliedschaft erforderlich ist. Das betrifft bei Berufskammern vor allem die Sicherung der Qualität der Berufsausübung, die wiederum dem Interesse der Kunden/ Klienten dient. Vorliegend wird daran deutlich, dass es ganz maßgeblich auch um die zu pflegenden Personen geht beziehungsweise gehen muss. Die Beurteilung der Leistungen der Pflegekammer aus diesem Blickwinkel wurde bei der Entscheidung in keiner Weise berücksichtigt.

Neue Organisation braucht fünf Jahre, bis sie Wirkung zeigt

Zudem ist zu beachten, dass die Wirksamkeit neuer Organisationen in einem so kurzen Zeitraum auch noch gar nicht tragfähig beurteilt werden kann. Nach einer Aufbauphase muss sich das gesamte Umfeld erst auf die neue Organisation einstellen, und in der Gesetzesevaluierung wird nicht ohne Grund in den meisten Fällen ein Zeitraum von fünf Jahren zugrunde gelegt, bevor die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen umfassend und nicht nur punktuell durch eine dazu geeignete Stelle fachkundig ermittelt wird. Alle diese Standards guter Gesetzgebung werden hier verkannt.

Die Entscheidung der Landesregierung basiert alleine auf der Beurteilung der vergleichsweise kurzen Kammerarbeit durch ein Fünftel der Mitglieder und blendet damit sämtliche öffentlichen Interessen aus, die an der Arbeit und dem Fortbestand der Pflegekammer bestehen.

Gesetzgeber in Geiselhaft einer kleinen Gruppe

Diese Mängel werden allerdings noch dadurch übertroffen, dass sich der Landesgesetzgeber freiwillig in die Geiselhaft einer kleinen Personengruppe begibt, die ausschließlich eigene Interessen verfolgt. In der Staatsrechtswissenschaft werden bereits breit angelegte Volksbefragungen kritisch beurteilt, weil sie als Instrument der Willensbildung in den Verfassungen nicht vorgesehen sind und von ihnen starke faktische Bindungswirkungen ausgehen, die das verfassungsrechtlich vorgesehene Verfahren repräsentativer Willensbildung unterlaufen. Man mag dem entgegnen, der Gesetzgeber könne sich diese Position ja gleichwohl zu eigen machen. Das ist vorliegend auch geschehen, aber nur in dem Sinne, dass Zweifel am Nutzen einer solchen Institution für den Berufsstand artikuliert werden. Hier hätte sich der Gesetzgeber deutlich besser vergewissern müssen und der Frage nachgehen müssen, ob der Widerstand bei den Mitgliedern nicht auch ein Zeichen dafür ist, dass die Pflegekammer Gemeinwohlbelange verfolgt, die von den Mitgliedern Verhaltensänderungen verlangen, die von ihnen nicht erwünscht sind.

Schließlich und vor allem ist es aber ein schlechtes Signal für demokratische Gesetzgebung, wenn sie nur auf den Widerstand einer kleinen Gruppe und nicht näher belegte Zweifel am Nutzen einer mit großem Aufwand errichteten Organisation gestützt wird. Die Kommentare des Landesrechnungshofs zu diesem Vorgang dürften schließlich auch eher kritisch ausfallen.

Der Gesetzgeber hätte der Frage nachgehen müssen, ob der Widerstand bei den Mitgliedern nicht auch ein Zeichen dafür ist, dass die Pflegekammer Gemeinwohlbelange verfolgt, die von den Mitgliedern Verhaltensänderungen verlangen, die von ihnen nicht erwünscht sind.

Was jetzt passieren sollte

Die Pflegekammer Niedersachsen kann sich gegen das Gesetz mangels einer entsprechenden Regelung zugunsten von Pflegekammern in der Landesverfassung nicht gerichtlich zur Wehr setzen. Deshalb sollten sich die politischen und öffentlichen Kontrollinstanzen – etwa die Opposition im Landtag oder die Medien – des Vorgangs annehmen und vor allem die vorgetragene Begründung kritisch hinterfragen. Auch mit Blick auf die in anderen Bundesländern bestehenden Pflegekammern wäre es wichtig, die Entscheidung auf ein breites und tragfähiges Fundament von Erkenntnissen zu stellen und sich nicht nur auf Zweifel über den Nutzen der Institution und den Willen eines kleinen Kreises von kritischen Mitgliedern zu stützen.

Der Kommentar ist zuerst im Magazin der Pflegekammer Niedersachsen (Ausgabe 2) erschienen.

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