Bewohnervertretung warnt vor bedenklichen Entwicklungen auf Grund von Personalmangel in der Pflege. Darunter leiden die Bewohner*innen ebenso wie das überlastete Pflegepersonal.
Herr A. ging früher gerne spazieren. Seit er mit einer Demenzerkrankung im Pflegeheim lebt, hat er jedoch nur mehr wenig Gelegenheit, sich an der frischen Luft zu bewegen. Meistens wird er schon zurückbegleitet, bevor er noch die Tür erreicht hat. Wenn er allzu oft versucht, das Haus zu verlassen, dann gibt es auch noch ein Medikament, das ihn „beruhigt“.
Herr A. steht für viele Betroffene. „Wir wissen von Pflegeheimen, in denen wegen Corona-Fällen auf der Station die Dosis an sedierenden Medikamenten für mehrere Bewohner*innen erhöht wurde, mit dem Ziel, dass niemand mehr die Station verlässt“, schildert Bewohnervertreterin Susanne Jaquemar vom >´VertretungsNetz´.
Freiheitsbeschränkungen sind schwerwiegende Grundrechtseingriffe. In Österreichs institutionellen Pflege- und Betreuungseinrichtungen sind solche Maßnahmen über das Heimaufenthaltsgesetz geregelt. Die Bewohnervertretungen überprüfen im Einzelfall, ob die jeweilige Maßnahme zulässig ist. „Entscheidend ist, dass eine Freiheitsbeschränkung immer nur das letzte mögliche Mittel sein darf. Zuvor sind alle anderen pflegerischen oder pädagogischen Maßnahmen auszuschöpfen“, stellt Susanne Jaquemar klar.
Zu wenig Personal – Gesetzwidrige Bewegungseinschränkungen nehmen zu
Die Bewohnervertreter*innen beobachten leider vermehrt unverhältnismässige Freiheitsbeschränkungen im Pflegekontext – und zwar immer öfter, weil das Personal fehlt. „In manchen Heimen bekommen Bewohner*innen eine Schlafmedikation verordnet, damit die überlangen Ruhezeiten von 19.00 bis 07.00 Uhr eingehalten werden können“, berichtet Jaquemar. „Wir wissen von Situationen, in denen Zimmertüren oder Betten versperrt gehalten werden, während das Pflegepersonal andere Bewohner*innen versorgt, damit in der Zwischenzeit ‚nichts passiert‘“. Tragisch: Gerade durch die Freiheitsbeschränkungen kommt es manchmal zu Unfällen, etwa weil die Bewohner*innen versuchen, Seitenteile am Bett zu überklettern und dabei stürzen.
Freiheitsbeschränkungen, die aus organisatorischen Gründen gesetzt werden und nicht aufgrund einer Gefährdungssituation, bringen nicht nur viel Leid für die Betroffenen, sondern sind außerdem gesetzwidrig. Auch gerichtliche Entscheidungen stellen klar, dass Personalmangel kein Grund für eine Bewegungseinschränkung sein darf. „Trotzdem ist in vielen Einrichtungen mittlerweile das Personal überwiegend mit der Grundversorgung der BewohnerInnen beschäftigt und hat für eine konzeptgeleitete Pflege oder für Mobilisierungsmassnahmen wenig bis keine Zeit“, schildert Jaquemar den Eindruck der Bewohnervertretung.
COVID hat die Lage noch verschärft
Die Pandemie der letzten beiden Jahre hat die bereits angespannte Situation nochmals zugespitzt. Lange war der Hauptfokus in den Pflege- und Betreuungseinrichtungen der Kampf gegen das Corona-Virus. Bewohner*innen wurden vorsorglich isoliert, später waren Covid-19-Erkrankte zu versorgen. Die Situation war und ist sowohl für die Bewohner*innen als auch für das Pflegepersonal sehr belastend.
Unzulässige De-Mobilisation, zu wenig Besuchszeiten
Dennoch sind es letztlich die Bewohner*innen, die auf der Strecke bleiben, weil sie auf Pflege und Betreuung angewiesen sind. Corona-bedingt werden Aktivitäten eingeschränkt, die Zeit für Mobilisierung wird eingespart. „Wir haben eine Bewohnerin vertreten, die zwei fixe ‚Bett-Tage‘ pro Woche hatte, an denen sie den ganzen Tag im Bett bleiben musste, obwohl sie mit Hilfe z.B. in einem Rollstuhl mobil gewesen wäre“, zeigt sich Jaquemar entsetzt. Die Bewohnervertretung hat diese Freiheitsbeschränkung gerichtlich überprüfen lassen, sie wurde für unzulässig erklärt.
„Es ist zudem unerträglich, dass in manchen Pflegeheimen die Besuchszeiten noch immer stark eingeschränkt werden, etwa auf täglich 14.00-16.00 Uhr – mit dem Argument, dass niemand Zeit habe, die ´3G-Nachweise´ der Besucher*innen zu kontrollieren.“ Für Bewohner*innen heisst das nämlich allzuoft, dass sie auf Besuche ihrer berufstätigen An- und Zugehörigen wochentags verzichten müssen.
VertretungsNetz: „Wir dürfen nicht zulassen, dass wegen der angespannten Personalsituation in Pflegeheimen Grundrechte eingeschränkt werden. Hier braucht es dringend Massnahmen, um gegenzusteuern. Pflegebedürftige Menschen wollen leben, nicht verwahrt werden“, so Susanne Jaquemar.
> Nähere Infos unter: vertretungsnetz.at