KL-Universität Krems (NÖ): Digitale Kurzsichtigkeit – wird die Pflege auf einem Auge blind?

Wissenschafter der KL Krems analysiert Konsequenzen  des  wachsenden  digitalen  Monitorings  in  der  Pflege und deren ethische Auswirkungen.

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Der wachsende Einsatz smarter Kontroll- und Monitoring-Tools  in  der  Pflege  entkoppelt  diese  zunehmend  von  ethisch-moralischen  Erwägungen –  das  ist  die  Kernthese  einer  jetzt international  veröffentlichten  Analyse  eines  Wissenschafters  der  Karl  Landsteiner  Privatuniversität  für  Gesundheitswissenschaften  in  Krems  (Österreich).

Die in ´Nursing  Philosophy´ erschienene  Argumentation  legt  den  Rollenwandel,  der  sich  für  Pflegende  durch  digitales Monitoring und KI-basierende  Entscheidungsprozesse ergibt,  überzeugend  dar:  Pflegebedürftige  als  Menschen  mit  individuellen  Bedürfnissen  wahrzunehmen,  könnte  standardisierten „smarten“  Entscheidungsprozessen  zum  Opfer  fallen.  Das  Einbinden  von  Pflegepersonal  in  die  Entwicklung  von  Kontrolltechnologien oder  eine  neue  Definition  des  Pflegeberufs  könnte aber Abhilfe schaffen.

Die digitale Kontrolle ist längst Alltag in der Pflege –  und  im  Langzeitbereich  erfasst  sie  viele  Lebensbereiche:  Vitalfunktionen  werden  genauso  überwacht  wie  tägliche  Aktivitäten  und  Verhaltensweisen.  Sensoren  an  der  Kleidung  erfassen  physiologische  Daten –  und  solche  im  Boden  das  Geh-  und  Sturzverhalten.  Smarte  Matratzen informieren über Schlafrhythmen – und Türsensoren alarmieren, wenn jemand die Unterkunft verlässt.

Zunehmend werden die erfassten Daten dabei integriert  und  von  Künstlichen  Intelligenzen  (KI)  auf  Abweichungen  von  gewünschten  Mustern  hin  analysiert.  Doch  wie  wirkt  sich  der  stetig  wachsende  Einsatz  dieser  digitalen  Assistenten  auf  das  aus,  was  im  Englischen  als  „Nursing  Gaze“  („pflegerischer  Blick“)  bezeichnet  wird?  Das  hat nun  Prof.  Giovanni  Rubeis,  Leiter  des  Fachbereichs  Biomedizinische  Ethik  und  Ethik  des  Gesundheitswesens  der  Karl  Landsteiner  Privatuniversität  für Gesundheitswissenschaften (KL Krems) weltweit erstmals analysiert.

Daten-Double
Der „pflegerische Blick“ beschreibt die Betrachtung des zu Pflegenden  sowohl  als  individuelle  Persönlichkeit  als  auch  als  Verkörperung  einer  medizinischen  oder  altersbedingten  Bedürftigkeit.  „Doch  der  stark  gestiegene  Einsatz  digitaler Kontroll- und Monitoring-Tools  verengt  diesen  Blick  immer  mehr  auf  quantifizierbare,  standardisierte  Werte“,  argumentiert  Prof.  Rubeis.  „Schmerzbeurteilung,  Verlaufsprognosen  und  Behandlungsempfehlungen  erfolgen  zunehmend  durch  Algorithmen.

Tatsächlich spricht Prof. Rubeis bereits von der Kreation  des  „Datendoubles“,  also  jener  digitalen  Repräsentation  eines  Pflegebedürftigen,  die  aus  rein  technischen  Werten  besteht.  „Je  mehr  wir  den  Pflegebedürftigen  hinter  seinen  Daten  verstecken,  desto  mehr  entkoppeln  wir  auch  Entscheidungsprozesse  über  Maßnahmen  von  dessen  individuellen  Bedürfnissen“,  merkt  Prof.  Rubeis  an.  „Und –  bei  allen  Vorteilen,  die  diese  Technologien  natürlich   auch bieten – Entscheidungen basieren dort auf Standard-Annahmen,  die  eben  nicht  für  jedes  Individuum  optimal  sein  können.  Damit  beginnt  dann  eine  Entmenschlichung der Pflege.“

Moralische Immunisierung

Der Einsatz digitaler und KI-asierter  Technologien,  so P rof.  Rubeis,  wird  für  das  Pflegepersonal  aber  oftmals  rein  positiv  dargestellt –  und  dieses  damit  gegen  moralische  Beurteilungen  „immunisiert“.  „Digitale  Überwachungstechnologien  werden  als  Mittel  zum  Erreichen  einer  höheren  Lebensqualität  und  eines  Lebens  frei  von  Einschränkungen  gesehen“,  so  Prof.  Rubeis.  „Damit  werden  die  Pflegenden  auch  ihrer  moralischen  Verantwortung  enthoben,  zu  beurteilen,  ob  diese  hehren  Ziele  mit  den  gewählten  Technologien  überhaupt  erzielt  werden.  Oder  ob  die  Betroffenen  ein  so  kontrolliertes  Leben  überhaupt  leben  wollen?

Der  „pflegerische  Blick“  wird  auf einem Auge blind.

Laut Proff.  Rubeis  kann  der  pflegerische  Blick,  der  über  die  körperlichen  Bedürfnisse  hinausgeht  und  Pflegebedürftige  als  Individuum  wahrnimmt,  jedoch  durchaus  mit  der  Digitalisierung  im  Pflegebereich  koexistieren.  Die  Aufgabe  der  Pflegenden  sollte  dabei  aber  nicht  sein,  als  Schutzengel  der  Menschlichkeit  Betroffene  vor  negativen  Auswirkungen  digitaler  Überwachung  schützen.  Vielmehr  sollten  Personen  aus  Pflegeberufen  mit  ihren  Erfahrungen  und  Fokus  auf  das  Individuum  in  Entscheidungen  über  die  Entwicklung  oder  den  Einsatz  digitaler  Kontrolltechnologien  eingesetzt  werden.  Auf  diese  Weise  kann  ethischen  Risiken  vorgebeugt  werden, statt Pflegenden das Abfedern von Kollateralschäden der Technik aufzubürden.

So zeigt die international beachtete Analyse der KL Krems  nicht  nur  eine  mögliche –  düstere –  Zukunftsvision,  sondern  bietet  auch  konkrete  Ansatzpunkte,  um  die  enormen  Möglichkeiten  der  Digitalisierung  auch  in  der  Pflege  zum  Wohle aller Betroffenen optimal einzusetzen.

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Originalpublikation: 

Adiaphorisation and the digital nursing gaze: Liquid surveillance in long‐term care. G. Rubeis, Nursing Philosophy. 2022;e12388. , DOI: 10.1111/nup.12388

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