VertretungsNetz – Bewohnervertretung alarmiert: Heimbewohner*innen leiden massiv unter der Pflegekrise.
Körperpflege unter Zwang, weil die nötige Zeit für bedarfsgerechte Pflege fehlt, keine Mobilisierung ins Freie, massive sedierende Medikation und bereits um 17 Uhr Bettruhe – das ist leider Alltag für immer mehr Menschen, die im Pflegeheim leben.
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Gitter vor den Fenstern gibt es zwar nicht – dennoch sind sie für immer mehr hochaltrige Menschen konkret „gefühlte“ Realität.
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Die Zahl der neu gemeldeten Freiheitsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen hat 2022 einen neuen Rekordwert erreicht und war noch höher als im Pandemiejahr 2020, als viele Menschen in Einrichtungen in Zusammenhang mit Covid-Infektionen oder Ansteckungsverdacht oft ungerechtfertigt isoliert wurden. „27.197 Freiheitsbeschränkungen wurden 2022 neu an die Bewohnervertretung gemeldet. Das ist ein Anstieg von rund 16 % gegenüber dem Vorjahr und ein Anstieg von unfassbaren 52 % gegenüber 2019, dem Jahr vor der Pandemie“, schildert Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin Bewohnervertretung bei VertretungsNetz die drastischen Zahlen.
„Besonders besorgniserregend ist, dass wir darüber hinaus von einer hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Maßnahmen ausgehen müssen, weil sich die Überlastung des Pflegepersonals zunehmend in lückenhafter Dokumentation und Versäumnissen bei der Meldung von Grundrechtseingriffen zeigt“, so Jaquemar, die gleichzeitig betont, dass viele Pflegekräfte weiterhin höchst engagiert in einem besonders herausfordernden Berufsfeld arbeiten und dort Großes leisten.
Zu viele Freiheitsbeschränkungen durch Medikamente
Die Bewohnervertreter*innen haben den gesetzlichen Auftrag, Freiheitsbeschränkungen in Wohn- und Pflegeeinrichtungen zu überprüfen und Verbesserungen für die betroffenen Menschen anzuregen. Immer öfter treffen sie auf erschöpfte, frustrierte und überforderte Pflegekräfte, die gerade noch die Basispflege absichern können. In vielen Einrichtungen wird inzwischen deutlich weniger Beschäftigung und Aktivitäten für die Bewohner*innen geboten.
„Wir sehen bei vielen alten Menschen eine zunehmende Immobilität, die mit einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes einhergeht. Oft fehlt die unbedingt notwendige Bezugsbetreuung für Bewohner*innen. Auch sedierende Medikamente werden häufig eingesetzt, um den Bewegungsdrang zu drosseln. Jede zweite neu gemeldete Freiheitsbeschränkung in Pflegeheimen ist eine durch Medikamente,“ berichtet Jaquemar. Im Zuge der Kontrollen stellt sich dann oft heraus, dass es gelindere Maßnahmen gäbe bzw. Medikamente viel zu hoch dosiert oder über zu lange Zeiträume gegeben werden.
Wenn Pflege gefährlich wird
Manche Freiheitsbeschränkungen lässt die Bewohnervertretung gerichtlich überprüfen. In den dafür angeforderten Gutachten der Pflegesachverständigen war schon mehrmals wörtlich von „gefährlicher Pflege“ die Rede. Denn von den Trägern der Einrichtungen im Stich gelassen, bleibt dem Pflegepersonal oft keine andere Wahl, als praktikable Lösungen zu finden, um den Alltag irgendwie zu bewältigen. Diese gehen jedoch am fachlichen Anspruch der Pflege vorbei und führen zu Verstößen gegen das Heimaufenthaltsgesetz.
Die Bewohnervertretung ließ 2022 auch mehrere Situationen gerichtlich überprüfen, in denen Bettnachbar:innen von Covid-positiven Pflegeheim-Bewohner*innen in Doppelzimmern präventiv mit-isoliert wurden – auch, wenn sie mehrmals negativ getestet und nicht quarantänepflichtig waren. Die hochaltrigen und vorerkrankten Menschen hatten durch diese Maßnahme ein hohes Ansteckungsrisiko zu tragen. „Mit-Isolierungen sind als Freiheitsbeschränkung unzulässig, dies wurde mehrmals gerichtlich bestätigt“, so Jaquemar.
Die Bewohnervertretung warnt seit langem, dass eine bedürfnisgerechte Pflege und Betreuung aufgrund des Personalmangels oft nicht mehr erfüllt werden kann und sieht die Pflegeheimträger, aber auch Bund und Länder in der Pflicht, endlich mit mehr Ressourcen und einer echten Reform gegenzusteuern. Letztlich geht es um die Menschenrechte und die Würde von alten und betreuungsbedürftigen Menschen, stellt Jaquemar klar: „Man kann nicht sagen, wir setzen jetzt leider mal eben die Grundrechte aus, weil das Personal fehlt.“
> zum Jahresbericht VertretungsNetz 2022
Stellungnahme des Bundesverbandes Lebenswelt Heim:
„Wir freuen uns, dass der Lazarus Newsletter das Thema so intensiv aufgegriffen hat und hoffen, dass dadurch vielleicht ein konstruktiver und lösungsorientierter Diskurs vorangetrieben werden kann“, teilte uns Generalsekretärin Claudia Hofmann, M.A., mit.
Initiative „Recht auf Pflege“ und aktuelle Petition des Berufsverbandes ÖGKV
„Mit großem Bedauern lese ich hier die Bestätigung zu unseren unzähligen Hilferufen. Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten seit geraumer Zeit in diesem ethischen Dilemma“, so ÖGKV-Präsidentin Mag Elisabeth Potzmann in einer ersten Reaktion. Dies sei einer der Gründe, weshalb die Pflegenden aus dem System aussteigen, wodurch sich die Situation weiter verschlechtere. Frau Potzmann vermisst einen längst fälligen „großen Aufschrei in der Bevölkerung“.
Deshalb hat der Verband die Initiative >„Recht auf Pflege“ ins Leben gerufen. Eine aktuelle Petition will den Menschen in Österreich niederschwellig die Möglichkeit geben, ein Statement abzugeben. Gerne unterstützen auch Sie diese Petition unter: