Gastbeitrag: Warum „Berührungsberufe“ systemrelevant sind und Gewinn bringen

Heilberufe wie die Medizin, die Pflegeberufe, das Hebammenwesen und viele andere Berufe im Gesundheitswesen, sind sogenannte „Berührungsberufe“. Sie berühren Menschen auf der körperlichen als auch auf der emotionalen Ebene.

Wenn jemand ernsthaft anstrebt, einen Heilberuf auszuüben, dann wäre es wichtig, beim folgenden Text der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Hilde Domin (1909-2006) inne zu halten, über diesen Text nachzudenken und sich zunächst selbst berühren zu lassen:

„Ich glaube das Wichtigste ist,

die Welt zum Menschlichen hin zu verändern:

nicht durch Ideologien,

sondern in dem der Einzelne,

wo Hilfe nötig ist,

das Schicksal eines Einzelnen

zum Besseren wendet“

Beinahe jeder Mensch kennt das, wie es ist, wenn eine Situation als schicksalshaft erlebt wird, und der sehnliche Wunsch besteht, dass es wieder besser wird. Sobald wir aus gesundheitlichen Gründen, eine Ärzt:innenpraxis oder ein Spital aufsuchen, weil wir vielleicht einen Schmerz nicht richtig deuten können, so erleben wir uns als „Angewiesene“ auf  Andere. Hilflos eigentlich. Wir erleben uns abhängig von einer anderen Person, die dieses Symptom bzw. diesen Schmerz richtig deuten kann.  Unruhe kommt in uns auf und wir möchten beruhigt werden. „Es ist nicht so schlimm“, möchten wir hören. Im Idealfall ist das so.

Nicht selten ist es jedoch so, dass ein Prozess der Annahme einer schicksalshaften Lebenssituation, sowie ein Prozess der Heilung und/oder Behandlung beginnt. Damit es zur Annahme der neuen Lebenssituation kommt – das kann auch nur ein vorübergehendes gesundheitliches Ungleichgewicht sein – braucht es ein Berührt-werden von jenen Personen, die in diesen Heilberufen helfend tätig sind. Ein Berührt-werden von Personen, die mein Schicksal nun zu einem Besseren wenden, wie Hilde Domin schreibt.

Das kann z.B. eine gründliche körperliche Untersuchung durch die Hände einer Ärztin sein, eine helfende Berührung durch eine Pflegeperson oder eines Therapeuten usw. Vor allem geht es um ein Berührt-werden durch einen Dialog, durch ein gutes Gespräch.

Ich will als einzelner Mensch wahrgenommen werden und darauf vertrauen, dass mir hier jemand hilft. Ich will zum Beispiel, dass jemand hört, was ich sage und mir vergewissert, dass sie oder er mich verstanden hat. Menschen in Heilberufen lernen zu berühren, sie lernen sich zwischen Nähe und Distanz professionell zu bewegen, um sich von den zahlreichen Einzelschicksalen angemessen auf einer menschlichen Ebene berühren zu lassen. Wenn z.B. die Pflegeberufe dies nicht wahrnehmen wollen oder können, dann schaffen sie sozusagen ihren Beruf ab, weil dieses „Sich Einlassen“ auf die menschlichen Schicksale, eine Kernaufgabe der Pflege ist.

Um aber in diesen Heilberufen selbst gesund zu bleiben, braucht es Arbeitsbedingungen, die es ermöglichen auf dieser professionellen Ebene zu agieren. Da geht es wie in jedem anderen Beruf um eine abgestimmte Personal- und Arbeitszeitplanung, um Wertschätzung und Anerkennung, um Weiterbildungs- und Reflexionsmöglichkeiten, um Führungskompetenz uvm.

Zurück zu unserem Schicksal. Wie agieren wir vielfach in einem unüberschaubaren Krankenhaus oder in überfüllten Ärzt:innenpraxen? Als verletzte und auf den anderen Menschen angewiesene Patientin bzw. angewiesener Patient, sage ich oft nicht, was ich sagen möchte, weil ich sehe, dass hier Menschen wie Waren durchgeschleust werden. Hektik bestimmt den Krankenhausalltag oder die Praxen. Ein Gespräch über mein Befinden würde den Durchzugsverkehr nur stören. Alles muss schnell abgearbeitet werden.

Nun stellen sich uns, um auf den Text von Hilde Domin zurückzukommen, viele Fragen, z.B.: „Welche Ideologie steht hinter diesem Phänomen des Durchschleusens von Menschen in einem Krankenhaus oder einer Praxis?“ „Welche Werte sind hier vorherrschend?“ „Worum geht es den Dienstleistern hier?“ „Geht es ihnen vielmehr um die Zahlen und Daten des Unternehmens Krankenhaus, oder geht es ihnen vielmehr um die Schicksale der Menschen, die hier gerade leben?“

Ökonomisierung als täglicher Spagat

Die Heilberufe beklagen zunehmend diese sichtbare Ökonomisierung der Gesundheitsdienstleister. Sie bewegen sich fast täglich in einem Spagat zwischen Patientenorientierung und Systemorientierung. Um aus diesem Dilemma herauszutreten, müssen sie alles daransetzen, um die Welt in der sie arbeiten zum Menschlichen hin zu verändern, wie Hilde Domin schreibt. Die Heilberufe müssen sich von den Schicksalen der Menschen berühren lassen und nicht vom Schicksal des „Unternehmen Krankenhaus“. Nur wenn wir die Verletzlichkeit, also die Schicksale der Menschen wahrnehmen, haben wir eine Chance die Welt zum Menschlichen hin zu verändern. Heilberufe können das. Es wäre ein volkswirtschaftlicher Schaden, wenn Heilberufe die Dienstleistung „Menschlichkeit“ zunehmend im Sumpf der Profitgier und des Wettbewerbs versenkten.

Gewinnvermehrung an der Zunahme der Menschlichkeit zu messen, ist vielleicht jene erstrebenswerte Ideologie, die Hilde Domin akzeptiert hätte. Auch so erklärt sich, warum Berührungsberufe  systemrelevante Berufe sind.

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Über die Autorin:

DGKP Christa Santner, MSc ist Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Lehrerin für Gesundheitsberufe mit dem Schwerpunkt Kinder und Jugendliche,  Berufsethik und Gesundheitsförderung.

Kontakt:

Foto: zVg

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