LKH Feldkirch (Vlbg.): Kinder als Besuchende auf Intensivstationen – „Paper of the year“

Die European Society of Intensive Care Medicine (ESICM) hat die Publikation „Zehn Empfehlungen für den Besuch von Kindern auf Intensivstationen“ zum „Paper of the Year“ gekürt.

Aus Vorarlberger Sicht ist das besonders erfreulich. Denn als eine der drei Hauptautor*innen federführend verantwortlich ist DGKP Maria Brauchle (li.). Die Intensivpflegefachkraft am Schwerpunktkrankenhaus Feldkirch hat das Projekt überhaupt erst angeregt. Ihr zur Seite stand von Beginn an Intensivpfleger Julian Rudolph (re.).

Das ausgezeichnete Paper ist eine englische >Kurzfassung der deutschsprachigen Publikation „Kinder als Angehörige und Besuchende auf Intensivstationen, pädiatrischen Intensivstationen und in Notaufnahmen“. Kernpunkt des 57-seitigen Papiers sind zehn Empfehlungen (siehe Kasten u.), die Kinder als Angehörige und Besuchende quasi „an der Hand nehmen“ sollen. Die Empfehlungen richten sich an Mitarbeitende aller Professionen sowie an Eltern/Sorgeberechtigte/Begleitpersonen. Sie sind auch als Hilfestellung angelegt, um zukünftig einheitliche Besuchsregeln für Kinder entwickeln zu können.

Premiere im europäischen Raum

Die Publikation ist Anfang 2023 in „Intensive Care Medicine“ erschienen, die Publikationsplattform zur Kommunikation und zum Austausch im Bereich der Intensivmedizin. „Das Thema scheint also auch international von Bedeutung zu sein“, schlussfolgern Maria Brauchle und Julian Rudolph. Insgesamt war ein 33-köpfiges interdisziplinäres Expert:innen-Team aus Österreich, Deutschland und der Schweiz in der wissenschaftlichen Aufarbeitung involviert, die Empfehlungen sind innerhalb der „Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (DIVI) entstanden und veröffentlicht worden.

„Es ist das erste Mal im europäischen Raum, dass Autor:innen aus der gesamten DACH-Region unter dem Mantel einer Fachgesellschaft eine solche Empfehlung verabschiedet haben“, freut sich Maria Brauchle: „Die Vereinigung ist sehr gut vernetzt und es gibt überall in Europa Menschen, die sehr engagiert und zuverlässig sind und bei solchen Projekten mitarbeiten. Wir sind stolz darauf, dass die Arbeit dadurch so interprofessionell und interdisziplinär geworden ist.“

Über drei Jahre hinweg haben die unterschiedlichsten Disziplinen und Professionen – ehrenamtlich – mitgewirkt. Der offizielle Startschuss für die Zusammenarbeit erfolgte, als die Idee auch eine finanzielle Basis in Form eines Forschungs-Förderpreises erhalten hat.

Starke Gefühle und eigene Bilder im Kopf

Wer schon einmal eine:n liebe:n Angehörige:n auf der Intensivstation besucht hat, der kann sich bestimmt noch an die eigenen, wohl starken bis überwältigenden Gefühle erinnern, die dieser Besuch ausgelöst hat. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Kinder auf eine Intensivstation mitgenommen werden können, ist daher berechtigt. Seit vielen Jahren wird darüber entsprechend kontrovers diskutiert. „Und das wird es nach wie vor – wie überhaupt über die familienzentrierte Betreuung auf Intensivstationen kontrovers diskutiert wird“, ist sich Maria Brauchle bewusst. Zudem sei nach der Corona-Pandemie auf vielen Intensivstationen der Weg zurück zu offenen Besuchszeiten noch nicht überall eingeschlagen worden, es bestünden bis heute teils unterschiedliche Ansichten und Regelungen.

Die Jury habe bei ihrer Entscheidungsbegründung für die Auszeichnung „Paper of the year“ gerade dieses Zurückfinden heraus aus der Corona-Zeit der verschlossenen Türen besonders hervorgehoben sowie die interprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit gelobt.

Daneben lässt die Arbeit genügend Spielraum für individuelle Entscheidungen. Sie berücksichtigt beispielsweise auch, was zu beachten ist, wenn ein Kind von sich aus nicht auf die Station mitgehen möchte. Die jeweilige Situation fließt jedes Mal mit ein: „Man muss sich vorstellen, dass es immer einen ganz persönlichen Grund gibt, warum Kinder als Besuchende auf die Intensivstation kommen“, erklärt Julian Rudolph. Meist liege ein*e enge*r Angehörige*r in einem Intensivbett – manchmal waren die Kinder beim Ereignis dabei, das zum Aufenthalt auf der Intensivstation geführt habe.

Rudolph weiter: „Die kindliche Vorstellungskraft, die Fantasie der Kinder, kann ein Ereignis mitunter noch schlimmer werden lassen, als es tatsächlich ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich Kinder leichter tun, das Geschehene zu verstehen, wenn sie die Realität sehen, wenn sie beispielsweise sehen, wie es dem Unfallopfer geht. – Mit kindergerechten Erklärungen natürlich, aber ehrlich. Behutsames Hinführen und Aufklärung helfen sehr dabei, nicht zusätzliche, schlimmere Bilder im Kopf zu erzeugen.“

Keine Regeln, sondern Orientierungshilfen

Mit den Empfehlungen sollten die gröbsten Bedenken hinsichtlich eines Besuches von Kindern entkräftet werden können, so das Ziel der Arbeit. „Skepsis wird es immer geben, sie ist sogar erwünscht, weil in ihrer jeweiligen Umgebung mitunter natürlich auch berechtigt. Gerade der allererste Besuch ist immer auch mit einem großen Zeitaufwand aller Beteiligten verbunden“, schildert Maria Brauchle. Allen gemeinsam sei jedoch der Wunsch nach Information. Vor allem bei Menschen, die bislang noch nie mit einer Intensivstation konfrontiert waren. „Wichtig ist es, Aufklärung zu betreiben“, bringt es Julian Rudolph auf den Punkt: Ängste zu nehmen sowie Personal, Angehörige und Kinder auch bei der so wichtigen Vorbereitung auf den Besuch an der Hand zu nehmen.

Die angeführten zehn Empfehlungen seien kein Leitfaden im Sinne von Regeln oder Richtlinien. „Wir haben bewusst Empfehlungen erarbeitet. Als Orientierungshilfe vor allem bei der Vorbereitung“, erklärt Maria Brauchle. Nicht zuletzt profitieren übrigens auch die Patient*innen davon, wenn sie unter professioneller Anleitung die Nähe ihrer Angehörigen und (Enkel-)Kinder spüren dürfen.

Sensibilität und Erfahrung wissenschaftlich stützen

Das Team hat dabei jene Punkte verarbeitet, die es aus eigener Erfahrung heraus sowie dem derzeit wissenschaftlichen Stand entsprechend als am wichtigsten erachtet hat. „Und wir denken, dass wir einen guten Nerv getroffen haben. Die Rückmeldungen sind sehr positiv. Und das bedeutet, dass offenbar sowohl die Menschen zu Hause als auch das Personal in den Einrichtungen unsere Empfehlungen gut umsetzen können. Es war uns wichtig, unsere Arbeit so zu formulieren, dass sie jeder verstehen kann und in der Praxis auch tatsächlich Anwendung findet.“

Die berufliche und persönliche Erfahrung ist die eine Seite, die wissenschaftliche Untermauerung die andere. „Unsere Arbeit ist nach Evidenz basierten Kriterien entwickelt worden“, betonen die beiden Pflegefachkräfte das sorgfältige Bestreben, der Arbeit wissenschaftlichen Konsens zugrunde zu legen: „Beispielsweise konnten wir hygienische Bedenken – etwa das Argument der wechselseitigen Infektionsgefahr – mithilfe eines Experten in unserem Team, der der KRINKO (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention) am Robert Koch-Institut (Biomedizinische Leitforschungseinrichtung der deutschen Bundesregierung) angehört, entkräften. Natürlich ist die letztendliche Beurteilung immer situationsabhängig. Aber Kinder per se und von vornherein als die großen Keimträger zu sehen, ist unfair. Die Empfehlungen unterstützen auch hier bei der Entscheidungsfindung.“

Neben dem Robert Koch-Institut waren u.a. auch Vertreter der „Deutschen Palliativgesellschaft“ mit im Boot, Mitarbeiter:innen der „AETAS Kinderstiftung“ sowie der „Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie“ und einige mehr: „Es freut uns riesig, dass soeben auch Kooperationsanfragen namhafter Häuser aus Großbritannien bei uns eingegangen sind“, richtet Maria Brauchle ihren Blick bereits in die Zukunft. „Zudem planen wir Evaluationsstudien gemeinsam mit der Uniklinik Tübingen. Ich gehe davon aus, dass daraus in ein bis zwei Jahren eine Version 2.0 erwachsen wird.“

Pionierarbeit am LKH Feldkirch

Schon jetzt ist deutlich: Klare Empfehlungen erleichtern nicht nur den Besucher:innen und den Angehörigen die Vorbereitung, sondern auch dem interprofessionellen Fachteam auf der jeweiligen Station: „Das merken wir bei unseren eigenen Kolleg:innen, die sehr offen und gleichzeitig sensibel auf Kinderbesuche reagieren“, freuen sich Maria Brauchle und Julian Rudolph über die gute und einfühlsame Zusammenarbeit des Teams der Intensivstation am LKH Feldkirch. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas gebe allen eine Art zusätzliche Sicherheit, die sich natürlich auch verstärkt je häufiger Besuche mit Kindern stattfinden.

„Wir sind stolz darauf, dass wir hier von Feldkirch aus erneut Pionierarbeit leisten konnten“, verweist Julian Rudolph auch auf die Einführung des „Intensivtagebuches“ an den VLKH, mit dem seine Kolleginnen Maria Brauchle und Magdalena Vogt erst vor knapp drei Jahren schon einmal haben aufhorchen lassen (Details hier: > Intensivtagebuch am Landeskrankenhaus Feldkirch – Vorarlberger Landeskrankenhäuser). „Wenn man für ein Thema brennt und engagierte Kolleg:innen findet, die ebenso dafür brennen, ist eben viel möglich“, ist Maria Brauchle motiviert.

KASTEN:

„Zehn Empfehlungen für den Besuch von Kindern auf Intensivstationen“:

  1. Den Besuch von Kindern im interprofessionellen Team planen
  2. Elterliche Kompetenzen stärken
  3. Kindgerechte Information sicherstellen
  4. Den Besuch von Kindern vorbereiten, begleiten und nachbereiten
  5. Psychosoziale Unterstützung anbieten
  6. In palliativen Situationen besonders begleiten
  7. In Notfallsituationen eine kindgerechte Begleitung ermöglichen
  8. Führung – den richtigen Rahmen für Kinderbesuche schaffen
  9. Qualitäts- und Risikomanagement einbinden
  10. Den Kinderbesuch und Angehörigengespräche dokumentieren

 ENDE KASTEN

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Weitere Online-Informationen:

>Gesamtfassung sowie Kurzversion der Publikation

>Verein „Intensivstation.jetzt“

Fotos DGKP (2): ©VLKH — Symbolbilder Intensivstation; ©Mathis Fotografie

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