Menschen mit Inkontinenz: Durch Kassen-Geiz doppelt gestraft..?

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Damit Menschen mit Inkontinenz ein unabhängiges und würdevolles Leben führen können, müssen sie stärker in die Auswahl ihres Inkontinenz-Produkts einbezogen werden. Zu diesem zentralen Ergebnis kommt eine europaweite Studie, die heute im Rahmen des 6. Global Forum on Incontinence (GFI) in Berlin vorgestellt wurde. Die Untersuchung wurde von der AGE Platform Europe – einem Netzwerk, das über 40 Millionen ältere Menschen in Europa vertritt – und dem Hygieneproduktehersteller SCA durchgeführt. Befragt wurden Menschen mit Inkontinenz und pflegende Angehörige in Deutschland, Polen, England und Spanien. Ziel der Studie war es, zu ermitteln, was Patienten und pflegende Angehörige über die in ihrem Land verfügbaren Inkontinenz-Produkte wissen und inwieweit sie in die Produktauswahl eingebunden sind.

 

Demnach empfindet ein Viertel(!) der Befragten die von den Vertragspartnern der Krankenkassen zur Verfügung gestellten Inkontinenz-Produkte als ungeeignet, um aktiv am Alltag teilzunehmen. 43 Prozent hatten das Gefühl, die Produkte eigneten sich nicht, um sie während der Arbeit zu tragen. 41 Prozent fühlten sich von den Inkontinenz-Produkten im Schlaf gestört. Fast 40 Prozent bemängelten, dass sie keinen Einfluss auf die Produktauswahl hätten. Drei von vier Betroffenen gaben an, dass sie zusätzliche Produkte aus eigener Tasche bezahlen müssen.

 

Versorgung muss individuellen Bedürfnissen entsprechen

 

„Aufgrund des demografischen Wandels wird es immer wichtiger, dass die Versorgung von inkontinenten Menschen ihren individuellen Bedürfnissen und Vorlieben entspricht“, sagte die Generalsekretärin der AGE Platform Europe, Anne-Sophie Parent, bei der Vorstellung der Studienergebnisse. Bei der Pflege von Menschen mit Inkontinenz sei noch viel Spielraum für Verbesserungen vorhanden. „Betroffene könnten viel stärker in die Auswahl von Inkontinenz-Produkten einbezogen werden“, so Anne-Sophie Parent.

 

Für eine größere Unabhängigkeit und Zufriedenheit im Alltag von inkontinenten Menschen hebt die Studie drei Schlüsselfaktoren hervor. Dazu gehören neben der stärkeren Einbeziehung in die Produktauswahl vor allem eine verbesserte Information und mehr Wissen über die verfügbaren Inkontinenz-Produkte sowie eine Erstattung der Krankenkassen, die sich an den individuellen Bedürfnissen des Betroffenen orientiert.

„Viele Betroffene wünschen sich Beratung zu aktiven Maßnahmen der Kontinenzförderung und natürlich auch zu Hilfsmitteln“, erklärt die Pflegewissenschaftlerin Dr. Daniela Hayder-Beichel. Diesem umfassenden Beratungs- und Unterstützungsbedarf würde in Deutschland jedoch zu selten nachgekommen. „Hier gilt es neue Strategien im Gesundheitswesen zu entwickeln und erste gute Ansätze auszubauen“, so Dr. Daniela Hayder-Beichel. Beispielsweise müsste das Netz an  Kontinenzberatungsstellen dringend ausgebaut und nachhaltig finanziert werden.

 

Kontinenzpflege als Menschenrecht

 

Die Studienergebnisse entsprechen weitgehend den Schlussfolgerungen einer Expertenrunde aus acht führenden europäischen Patientenorganisationen1. Bereits im vergangenen Jahr stellten sie in einer gemeinsamen Stellungnahme sechs Empfehlungen auf, um die Versorgung von Menschen mit Inkontinenz zu verbessern2. Die Kontinenzpflege müsse als Menschenrecht anerkannt werden, um Betroffenen ein unabhängiges und würdevolles Leben zu ermöglichen. Zudem müsse das Bewusstsein und das Verständnis für Inkontinenz unter Betroffenen und pflegenden Angehörigen gesteigert und die Information über Inkontinenz und Kontinenzpflege verbessert werden.

 

Darüber hinaus empfahl die Expertenrunde, Menschen mit Inkontinenz stärker in die Produktauswahl einzubeziehen. Schließlich sollten Städte, Gemeinden sowie die Wohn- und Arbeitsumgebung der Betroffenen kontinenz-freundlicher gestaltet werden. Nicht zuletzt müsse der Forschung rund um Inkontinenz mehr Priorität beigemessen und eine umfangreichere Förderung etabliert werden. „Bei Inkontinenz stehen wir vor der Herausforderung, die Unabhängigkeit und das würdevolle Leben wiederherzustellen und betroffene Menschen bei der Teilnahme an der Gesellschaft zu unterstützen“, sagte Eurocarers-Präsident John Dunne.

 

„Aus unseren Forschungsprojekten wissen wir, dass insbesondere intermittierende Inkontinenz in der häuslichen Pflege ein hoch relevantes Feld von Unterversorgung sein kann“, sagte Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP). Inkontinenz sei stark schambesetzt und sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Helfern oftmals tabuisiert. „Auch dadurch wirkt Inkontinenz auf pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen vielfach besonders belastend – sie gefährdet nicht zuletzt das Gelingen des häuslichen Versorgungssettings“, so Dr. Ralf Suhr. „Mit validem Wissen und gesellschaftlicher Aufklärung müssen wir dieses Tabu zu Fall bringen.“

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1 AGE Platform Europe, Eurocarers, European Institute of Women’s Health (EIWH), European Multiple Sclerosis Platform (EMSP), Health First Europe (HFE), Alzheimer Europe, European Brain Council (EBC), International Federation for Spina Bifida and Hydrocephalus (IF SBH), European Federation of Crohn’s & Ulcerative Colitis Associations (EFCCA), International Alliance of Patients‘ Organizations (IAPO)

 

 

 

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Neueste Entwicklung: Erste Anzeichen von tätiger Reue?

 

Späte Einsicht bei den Kassen:  Das Hilfsmittelverzeichnis müsse „schnell überarbeitet“ werden (Abschluss: April 2018), sagte gestern Dienstag Vorstand Gernot Kiefer vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) bei einer Veranstaltung. Damit reagierten die Kassenbosse auf zum Teil heftige Kritik des Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, an der Qualität von z.B. Inkontinenzprodukten. Bereits Mitte März hatte der GKV-SV die Qualitätsanforderungen – nicht jedoch deren Finanzierung !! – von Inkontinenzhilfsmitteln deutlich angehoben.

 

Auch die Hersteller seien laut Kiefer dazu eingeladen, sich an der Modernisierung des Hilfsmittelverzeichnisses zu beteiligen. Zudem solle die Zulassung von Herstellern für die Versorgung jetzt neu geregelt werden. Kiefer gestand auch zu, dass ein reiner Preiswettbewerb der Krankenkassen nicht sinnvoll sei. Häufig vereinbaren die Krankenkassen mit Herstellern von Hilfsmitteln einen Preis, ohne auf die Qualität zu achten. In der Folge müssen die Patienten einen Aufpreis zahlen, um moderne Qualität zu erhalten. Laut Kiefer betreffe dies 30 bis 40 Prozent der Fälle. „Es kann nicht sein, dass Aufzahlungen zur Normalität werden“, sagte er selbstkritisch. Die Krankenkassen sollten daher prüfen, ob die Patienten wirklich die vereinbarten Produkte geliefert erhalten oder ob Aufpreiszahlungen für andere Produkte überhand nehmen…

 

Kommentar:

KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA

Deutschlands Kranken- und Pflegekassen kassieren kräftig Beiträge und machen Milliardenüberschüsse. Kein Wunder, werden doch die Patient/innen durch (vorsätzlich?) nur begrenzt taugliche Inkontinenzhilfsmittel zwangsbeglückt und zahlen – zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensqualität und gesellschaftlichen Teilhabe ! – zum Großteil durch eigene Zukäufe kräftig drauf. Viele Betroffene aber können sich das nicht leisten und müssen daher mit der Kassen-Verordnung der „sozialen Isolation“ leben. Auch die Beratung ist völlig unzureichend. All das ist unethisch, verantwortungslos, unsozial, knausrig und schäbig, werte Kassenbosse…

 

Erich M. Hofer

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