Österreich: Verfassungsgerichtshof entschied salomonisch zur Sterbehilfe und mehr Selbstbestimmung auch am Lebensende

Für mehr Selbstbestimmung auch am Lebensende haben Österreichs Verfassungsrichter am vergangenen Freitag in der Frage der Strafbarkeit der Sterbehilfe entschieden. Das Urteil wurde sehr unterschiedlich aufgenommen. Nun muss das Parlament den § 78 des Strafgesetzes neu formulieren.

VfGH 1920-2020

Selbstbestimmtes Sterben ist künftig auch in Österreich ein Menschenrecht. Denn der VfGH machte den Weg frei für einen zeitgemäßen Umgang mit dem Sterben und urteilte, dass der assistierte Suizid – wo also der Kranke selbst in Beisein des Arztes die letzten Schritte setzt – endlich straffrei gestellt wird (§ 78 StGB, 2. Tatbestand „Hilfeleistung beim Suizid“). Die durch eine andere Person durchgeführte „Tötung auf Verlangen“ bleibt hingegen weiterhin strafbar (§ 77 StGB), ebenso der 1. Straftatbestand des § 78 StGB (Verleitung zum Selbstmord).

In einer ersten Reaktion zeigt sich die ÖGHL (Österr. Gesellschaft für ein humanes Lebensende) mit der VfGH-Entscheidung zur Legalisierung der passiven Sterbehilfe sehr zufrieden. Österreich ziehe damit im internationalen Vergleich nach, wenn auch mit einiger Verspätung. Es sei ein zentraler Schritt für Selbstbestimmung auch am Lebensende.

Sterben bei schwerem Leid wird humaner

Die ÖGHL sieht die Entscheidung des VfGH als einen historischen Durchbruch. Mit ihr werde eine zutiefst inhumane Strafbestimmung aus der Zeit des Austrofaschismus aufgehoben. „Es ist eine Entscheidung, die schwerkranken Menschen, die nicht mehr länger leiden möchten, das Sterben ein Stück humaner macht“, sagt Wolfgang Obermüller (ÖGHL). Die Reichweite dieser Entscheidung sei mit der Einführung der „Fristenlösung“ (d.h. Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, somit mehr Selbstbestimmung für die Frauen) im Jahre 1975 vergleichbar, die heute nicht mehr in Frage gestellt wird. Die ÖGHL werde sich jetzt dafür einsetzen, dass die legalisierte Sterbehilfe in Österreich auch tatsächlich verfügbar ist, wie vom VfGH eingefordert.

Hände alt-jung

Die Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende (ÖGHL) betrachtet das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende als wesentlichen Teil der Autonomie des Menschen. Sie setzt sich daher für Entkriminalisierung der Sterbehilfe, insbesondere für die Liberalisierung von § 78 StGB („Mitwirkung am Selbstmord“) und von § 77 StGB („Tötung auf Verlangen“) ein und agiert gemeinnützig, überkonfessionell und überparteilich. Die ÖGHL richtet ihre Tätigkeit vor allem auf das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende im Kontext von unausweichlichem, schweren körperlichen oder psychischen Leid: insbesondere bei unheilbaren Krankheiten soll Sterbehilfe unter ärztlicher und psychologischer Betreuung und bei aufrechter Urteilskraft des Leidenden möglich sein.

 

Weitere Stellungnahmen:

Die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) vertritt als wissenschaftliche Fachgesellschaft Repräsentant*innen unterschiedlicher medizinischer Fächer, Professionen und Berufsdisziplinen, die unheilbar erkrankte und sterbende Menschen behandeln, betreuen und begleiten.

Die OPG zeigte sich in einer Aussendung besorgt, dass durch eine künftige Änderung der aktuellen Rechtslage, die dem Gesetzgeber nun aufgetragen ist, besonders schutzbedürftige Menschen mit schweren Erkrankungen Risiken ausgesetzt werden, vor denen sie bisher geschützt waren. Das betrifft insbesondere die Gefahr, dass bei der existenziellen Entscheidung über das Lebensende sozialer Druck und Rechtfertigungsnotwendigkeiten den freien Willen beeinträchtigen könnten.

Die aufgrund des Erkenntnisses des VfGh erforderliche Neugestaltung der geltenden gesetzlichen Bestimmungen zum assistierten Suizid sollte auf der Basis eines breiten Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesses erfolgen, unter Einbeziehung der relevanten Expertise aller in die Versorgung und Betreuung Schwerkranker und Sterbender involvierten Berufsgruppen und medizinischen Fachbereiche. Aus Sicht der OPG müsse eine neue gesetzliche Regelung im Sinne einer Schadensabwendung für besonders schutzbedürftige Menschen jedenfalls die folgenden Eckpunkte sicherstellen:

  • Assistierter Suizid darf nicht geschäftsmäßig angeboten werden. Ein Verbot kommerzieller Anbieter, welcher Rechtsform auch immer, ist ein wichtiger Schutz.
  • Ein- und Ausschlusskriterien für den Zugang zum assistierten Suizid müssen klar und unmissverständlich formuliert werden, um Missbrauch zu verhindern, wie dies ja auch der VfGh betont. Ausgeschlossen werden sollte der assistierte Suizid jedenfalls bei Minderjährigen, bei Menschen ohne fortschreitende und unheilbare Erkrankungen, oder bei Menschen mit eingeschränkter Urteils- und Entscheidungsfähigkeit.
  • Menschen, die assistierten Suizid in Anspruch nehmen möchten, muss auch der Zugang zu einem Palliativgespräch ermöglicht werden.
  • Die Rolle von Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Gesundheitsberufen ist präzise zu definieren: Die Behandlung und Betreuung Schwerkranker und die Begleitung des assistierten Suizids müssen klar voneinander getrennt sein.

Was Palliative Care bieten kann

Als in der Palliativversorgung Tätige betreuen wir Tag für Tag schwerkranke Menschen mit unheilbaren Leiden und Menschen am Lebensende. Wir sind mit existentiellen Fragen, Sorgen, Ambivalenzen und leidvollen Erfahrungen vertraut, die mit der letzten Lebensphase verbunden sein können. Ebenso haben wir für die Ängste und Vorstellungen Verständnis, die auch viele gesunde Menschen in Bezug auf mögliche schwere Erkrankungen und das Lebensende beschäftigen, so die ÖPG weiter.

ÖPG-Palliativkongress-2022

„All diesen Menschen versichern wir, dass die unterschiedlichen Berufsgruppen, die in Palliative Care (Palliativversorgung) tätig sind (Ehrenamt, Medizin, Psychologie, MTD-Berufe, Pflege, Seelsorge, Sozialarbeit, etc.), in solchen Situationen professionelle Begleitung und Entlastung in einem vertrauensvollen Rahmen anbieten können. Palliative Care steht für eine bestmögliche Begleitung, ohne Verlängerung des Sterbeprozesses durch Übertherapien, jedoch mit professioneller Linderung aller Leiden. Gemeinsam mit Menschen mit einer krankheitsbedingt deutlichen Einschränkung der verbleibenden Lebenszeit, sowie dem bisherigen Behandlungsteam definieren wir jenen Zeitpunkt, zu dem wir das Therapieziel vom Prinzip der Heilung in Richtung palliative Begleitung verändern, und besprechen alle Optionen, die Autonomie und Lebensqualität für die individuelle Situation bestmöglich erhalten. Das schließt auch das persönliche Umfeld Erkrankter und die Entlastung von An- und Zugehörigen ein.“

Den multidisziplinären Palliativexpert*innen steht eine breite Palette von Möglichkeiten der Unterstützung und der Linderung von Leiden zur Verfügung. Beispiele dafür sind die zahlreichen wirksamen Optionen der medikamentösen und nichtmedikamentösen Schmerzbehandlung oder die Möglichkeiten, Atemnot, Angstzustände oder Unruhe zu lindern. Die palliative Sedierungstherapie erlaubt effektive Hilfe auch in sehr belastenden Situationen: Der ethisch begründeten Möglichkeit der Einleitung einer medikamentösen Beruhigung bis hin zu einem Dämmerschlaf oder Tiefschlaf, um anders nicht behandelbare Schmerzen oder belastende Symptome in den letzten Lebenstagen zu vermeiden. Ebenso gibt es umfassende und individuell angepasste Hilfestellungen zur Bewältigung von psychosozialen Problemen.

Was die OPG für die Stärkung von Palliative Care fordert

Ungeachtet der Diskussion über die Rechtslage ist auf jeden Fall Sorge dafür zu tragen, dass die vielfältigen Möglichkeiten der Palliative Care zur wirksamen Leidenslinderung und Symptomkontrolle allen Menschen zugutekommen, die sie benötigen. Diese Möglichkeit darf nicht vom Wohnort abhängen, sie muss in gleicher Weise in ganz Österreich verfügbar sein. Die OPG tritt daher für die folgenden Verbesserungen ein und fordert nachdrücklich ihre rasche Umsetzung:

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  • Die Verankerung eines individuellen Rechts auf Palliativversorgung durch geeignete rechtliche Instrumente.
  • Zu diesem Zweck muss der flächendeckende Ausbau der Palliativversorgung in allen Bundesländern und auf allen Versorgungsstufen sichergestellt werden: von der Grundversorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte und andere Gesundheitsberufe bis hin zu spezialisierten ambulanten Angeboten und Einrichtungen.
  • Die Stärkung der Aus- und Fortbildung in Palliative Care für alle Gesundheitsberufe, damit auch außerhalb spezialisierter Einrichtungen die vielfältigen Instrumente der Palliativversorgung bestmöglich zum Einsatz kommen können.
  • Ein verbessertes psychosoziales Betreuungsangebot für Krisensituationen, einschließlich einer der Situation angemessenen und sensiblen Suizidprävention.
  • Eine bessere Aufklärung über und ein vereinfachter Zugang zu den Vorsorgeinstrumenten Vorsorgevollmacht oder Patientinnen- und Patientenverfügung, die ein wichtiges Mittel zur Sicherung der Selbstbestimmung am Lebensende darstellen.

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Gleichermaßen erleichtert und kritisch sieht die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Notfallmedizin das aktuelle Erkenntnis. „Als Anästhesistinnen und Anästhesisten bewegen wir uns in allen Bereichen unseres vielfältigen Tätigkeitsgebietes – vom notfallmedizinischen Einsatz über die Arbeit im Schockraum, von der Narkoseführung über die Betreuung kritisch kranker Menschen auf den Intensivstationen, von der Schmerztherapie bis zur Palliativbetreuung unheilbar Kranker – häufig auf dem schmalen Grad zwischen Leben und Tod. Daher sind wir Tag für Tag mit den Ängsten, Sorgen und Ambivalenzen konfrontiert, die mit der letzten Phase des Lebens verbunden sein können“, sagt Univ.-Prof. Dr. Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).

„Wir begrüßen die höchstgerichtliche Entscheidung, dass die Bestimmungen des Strafgesetzbuches zur Tötung auf Verlangen und zur Verleitung zum Suizid aufrecht bleiben. Die möglichen Konsequenzen der Aufhebung des Verbots einer Suizid-Beihilfe sehen wir allerdings mit einiger Sorge. Die aktuelle Gesetzeslage gibt uns, wie wir dies auch wiederholt klargestellt haben, die Möglichkeit, für jede Patientin und jeden Patienten im Einvernehmen mit ihr oder ihm individuell zu entscheiden, welche Therapien wir umsetzen oder wann wir eine Therapiezieländerung in Richtung palliative Begleitung vornehmen sollen“, so der ÖGARI-Präsident. „Wir haben viele Möglichkeiten und Methoden, auch schwere Leiden und belastende Symptome effektiv zu lindern. Zudem hat der Gesetzgeber vor zwei Jahren auch eine wichtige Klarstellung im Ärztegesetz vorgenommen, indem er ausdrücklich eine Beistandspflicht für Sterbende unter Wahrung ihrer Würde festlegte und Rechtssicherheit für wichtige palliativmedizinische Maßnahmen schaffte.“

Im Zusammenhang mit der Diskussion über Sterbehilfe und assistierten Suizid werde immer wieder – wohl nicht zufällig – ein überholtes und falsches Bild gezeichnet, so Univ.-Prof. Dr. Barbara Friesenecker, Leiterin der AG Ethik in der ÖGARI. „Es wird häufig suggeriert, dass ein würdiges Lebensende nur durch eine vorzeitige Beendigung des Lebens möglich wäre. Das spiegelt aber nicht im Geringsten wider, dass wir mit der Palliativmedizin vielfältige Möglichkeiten haben, um ein würdiges Lebensende zu begleiten – von der hochwirksamen Schmerztherapie über effektive Methoden, Atemnot zu lindern und Ängste oder Depressionen zu behandeln. Sind Symptome nicht anders in den Griff zu bekommen, ist sogar die medikamentöse Herbeiführung einer verminderten oder aufgehobenen Bewusstseinslage (Bewusstlosigkeit) möglich, um Linderung sicherzustellen. Es ist bedauerlich, dass Sterbehilfe-Befürworter ein sehr einseitiges Bild zeichnen.“ Dies sei auch vor dem Hintergrund bedenklich, dass hier Organisationen Lobbying betreiben und das rechtliche Vorgehen unterstützten, die klare geschäftliche Interessen auf dem Gebiet der Sterbehilfe haben.

Dass der Gesetzgeber jetzt zur Neuregelung aufgerufen ist, gibt die Möglichkeit, das sehr vielschichtige Thema mit der gebotenen Sorgfalt zu behandeln, betont Prof. Markstaller. „Wir setzen darauf, dass bei der Neugestaltung der Rechtsmaterie auch Expertinnen und Experten aus der klinischen Praxis beigezogen werden und dass durch sehr klare Definitionen der Missbrauch einer neuen Regelung ausgeschlossen wird.“ Zugleich müsse unbedingt sichergestellt werden, dass in ganz Österreich flächendeckend eine effektive schmerz- und palliativmedizinische Versorgung zur Verfügung steht, um allen Menschen auch andere Optionen eines Sterbens in Würde zugänglich zu machen, als ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen.

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